Als Tolkien mit dem Schreiben von Der Herr der Ringe begann, hieß Frodo noch Bingo Bolger-Beutlin, Aragorn war ein Hobbit namens Trotter und der Autor hatte sich noch nicht einmal überlegt, was genau es denn nun eigentlich mit diesem mysteriösen Ring auf sich hatte. Kein Wunder, war doch überhaupt nie eine Fortsetzung zum kleinen Hobbit geplant gewesen!
Aber für den Verlag stand nach den Verkaufszahlen fest: Mehr Geschichten über Hobbits müssen her! Dass Tolkien am Märchen von Bingo Beutlin ganze 12 Jahre schreiben würde und am Ende die monumentale Saga vom Ringkrieg gegen den dunklen Herrscher herauskam, überraschte niemanden mehr als ihn selbst.
Was wir damit sagen wollen: Nicht jedes Epos erreicht sein volles Potenzial im ersten Anlauf. Aber »Der Herr der Ringe« übertraf den Hobbit nicht nur in jeder Hinsicht, er hauchte auch Ideen wie dem Ring der Macht erst ihren dringend benötigten tieferen Sinn ein. Nach Mordors Schatten hat Entwickler Monolith mit dem Nachfolger Schatten des Krieges ein ganz ähnliches Kunststück hingelegt. Auch wenn der Verlag - pardon, der Publisher - vielleicht etwas mehr dabei verdient, als gänzlich anständig ist.
Größer, besser, epischer
Schatten des Krieges steckt uns erneut in die Schuhe des untoten Waldläufers Talion, weiterhin besessen vom geisterhaften Elbenschmied Celebrimbor. Der war es, der für Sauron die magischen Ringe schuf und dafür von ihm betrogen und hingerichtet wurde. Zu Spielbeginn schmieden Talion und Celebrimbor gemeinsam einen neuen Ring, um sich am dunklen Herrscher zu rächen.
Unser Ziel: In Mordor unsere eigene Orkarmee aufbauen, Sauron seine Trutzburgen entreißen und schließlich selbst zum hellen Herrscher aufsteigen. Nur dass wir's diesmal deutlich schwerer haben als im ersten Teil! Wo es damals noch gegen ein paar namenlose und frei erfundene Unterlinge des dunklen Herrschers ging, dürfen wir uns diesmal mit den berühmtesten Schurken der Fantasy-Geschichte messen.
Sauron wirft uns den Hexenkönig, seine Ringgeister und sogar einen Balrog entgegen. Und dann ist da noch die Riesenspinne Kankra, die ihre ganz eigenen Pläne hat. Und was für die Gegnerriege gilt, gilt für das gesamte Spiel: Schatten des Krieges ist durchweg eindrucksvoller, stimmungsvoller und vielschichtiger als sein Vorgänger.
Die wichtigste Idee funktioniert endlich
Arkham-Kampfsystem trifft Open-World-Parkour der Marke Assassin's Creed: Mordors Schatten schaute sich viele seiner besten Spielmechaniken fast eins zu eins von der Konkurrenz ab, fügte sie aber zu einem richtig gelungenen Gesamtpaket zusammen. Nur seine größte eigene Idee blieb weit hinter ihrem gewaltigen Potenzial zurück.
So cool es auf dem Papier klang, per Gedankenkontrolle unsere eigene Orkarmee aufzubauen, so wenig konnten wir mit den Jungs dann tatsächlich anstellen. Bis jetzt! Schatten des Krieges baut das Nemesis-System nicht nur massiv aus, es gibt ihm auch endlich einen Sinn: Erneut durchstreifen prozedural generierte Ork-Hauptmänner jedes Gebiet, alle mit eigenen Namen und Stärken und Schwächen. Besiegen wir sie, können wir sie unterwerfen. Aber diesmal sind die Vasallen viel nützlicher!
Unseren Liebling dürfen wir zum persönlichen Leibwächter deklarieren und dann jederzeit herbeirufen. Und plötzlich können wir gar nicht mehr aufhören, Mordor nach den bestmöglichen Orks zu durchkämmen! Unsere erste Liebe war beim Testen von Schatten des Krieges Ar-Hissu der Wuchtige, ein Troll-Anführer, der immer gleich mit einer ganzen Horde Schergen erschien und im Lauf der Schlacht ständig Verstärkung rief.
Später raubte ein Sprengmeister unser Herz, der zwar alleine kämpfte, dafür aber einen riesigen Flammenwerfer im Gepäck hatte. Ihr merkt schon: Die Orks und ihre Fähigkeiten fallen diesmal deutlich interessanter aus. Sie bringen eigene Klassen und unterschiedliche Stammesboni mit, und die seltenen epischen und legendären Orks verfügen obendrein über eine beziehungsweise zwei besonders ausgefallene Eigenschaften.
Nur gegen Ende stellt sich ein Hauch von Eintönigkeit ein. Bis dahin haben wir alle normalen Fähigkeiten dutzendfach gesehen und trotzdem ist nur jeder zehnte Hauptmann mal episch oder gar legendär. Da hinterlässt es doch einen unschönen Beigeschmack, dass selbst eine einzelne Echtgeld-Lootbox gleich vier legendäre Orks enthält. Dennoch: Unsere Armee von Hand aufzubauen ist kein nerviger Grind, sondern verflixt motivierend. Wir fühlten uns nie genötigt, Lootboxen zu kaufen.
Was kann man kaufen?
Alle Echtgeld-Käufe bieten handfeste Ingame-Vorteile und sind nicht nur kosmetisch. Es gibt Lootboxen in mehreren Qualitätsstufen, die entweder Items oder Ork-Gefolgsleute für Talion enthalten. Je teurer, desto besser: Für rund fünf Euro gibt es etwa eine Kiste mit vier garantierten legendären Orks. Dazu kommt ein legendärer Ausbildungsbefehl, mit dem wir vorhandene Diener verbessern dürfen. Außerdem bietet der Markt temporäre Booster für Erfahrung und Beutechancen an.
Kann man sich das auch ingame verdienen?
Ja, in den Kisten gibt es keine Orks oder Items, die man nicht auch selbst im Spiel finden könnte. Wir dürfen auch Kisten für (recht großzügig verteilte) Ingame-Währung kaufen, die garantieren aber nur epische Orks. Für legendäre brauchen wir Glück, unseren ersten bekamen wir nach fünf Truhen. Durch Multiplayer-Schlachten verdienen wir uns ebenfalls Boxen. Jeder Belagerungssieg wirft eine Waffenkiste ab und je nach unserer Leistung kriegen wir alle fünf bis zehn Erfolge eine Orktruhe. Auch die ist weniger ergiebig als die käuflichen, garantiert aber immerhin einen legendären Gefolgsmann. Zwar können wir Echtgeld-Währung auch durch Spiel-Herausforderungen sammeln, aber nur in kleinen Mengen.
Beeinträchtigen Lootboxen die Singleplayer-Balance?
Nein. Wer ohne Lootboxen spielt, findet immer noch jede Menge starker Items und ist auch nicht auf die garantierten legendären Orks angewiesen, um Belagerungen zu schaffen.
Und die Multiplayer-Balance?
Hier sieht es kritischer aus. Echtgeld-Boxen sind der einfachste und schnellste Weg, an eine starke Armee zu kommen. Diese kann auch in Ranglisten-Spielen eingesetzt werden, um Spieler ohne Echtgeld-Käufe zu übertrumpfen - zumindest, bis diese sich selbst eine ähnlich starke Truppe erarbeitet haben. Orks können außerdem dauerhaft sterben, Echtgeld-Käufer füllen ihre Verluste am schnellsten und effektivsten.
Unser Fazit zu den Lootboxen:
Das System ist längst nicht so schlimm wie befürchtet. Im Singleplayer lässt es sich problemlos ignorieren, nur im Multiplayer-Modus verwässern käufliche Vorteile die Rangliste. Für gelungen halten wir das Modell aber trotzdem nicht. In einem Vollpreis-Singleplayerspiel fühlen sich solche Mikrotransaktionen fehl am Platz an - hier ist es völlig widersinnig, zusätzlich zu zahlen, um Spielzeit zu überspringen und ein Kern-Spielelement, die Jagd nach Orks, abzukürzen. Außerdem bricht es mit der Glaubwürdigkeit der Spielwelt, dass Talion jederzeit den "Markt" bemühen kann, um sich mit Kisten voller Orks einzudecken.
Gleichzeitig kriegen Käufer recht wenig für ihr Geld, zumal die Orks völlig zufällig sind. Glücklicherweise macht das Spiel auch ohne Lootboxen Spaß, wir fühlen uns nie zum Kauf genötigt. Es bleibt aber ein unschöner Beigeschmack. Die meisten Gebiete im Spiel enthalten weniger der interessantesten legendären Orks als eine einzelne Lootbox. Wer seine Armee von Hand aufbaut, kriegt für seine Mühen weniger als jemand, der sie einfach kauft. Die Orkjagd, obwohl auch so spaßig, könnte also noch einen Tick abwechslungsreicher und motivierender sein, wenn die Entwickler keine Boxen verkaufen müssten.
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