Wer ist hier der Boss?
Dass am Ende dieses Testberichts trotz aller Kritik eine Wertung von 82 Punkten steht, ist Ausdruck eines organischen Spielflusses. Mordors Schatten spielt sich weder neu noch originell, aber es spielt sich gut, sehr gut sogar. Die Räder greifen sauber ineinander, der fliegende Wechsel zwischen Parkours und Schleichen etwa geht so wunderbar von der Hand, dass man sich unwillkürlich fragt, warum Assassin's Creed das bis heute nicht auf die Kette bekommen hat.
Außerdem vermeidet das Spiel den typischen Kardinalfehler von modernen Open-World-Titeln: Es wird zwar nie in den Verdacht geraten, ein Dark Souls zu sein, aber es fühlt sich auch selten zu leicht an, mehr als einmal haben wir uns dabei ertappt, mit geballter Faust vor dem Bildschirm zu setzen, weil ein sorgfältig geplantes Attentat perfekt funktioniert hat. Auch das Bogenschießen gefällt: Sowohl der Fokus als auch die zunächst zur Verfügung stehende Pfeilmenge sind so knapp bemessen, dass wir mit den Ressourcen sparsam umgehen, uns dann aber für kurze Zeit herrlich übermächtig fühlen dürfen. Und mit jedem Upgrade spürbar stärker werden.
Einige ärgerliche Schnitzer im Detail haben sich dennoch eingeschlichen. Warum beispielsweise dürfen wir eine Mission nicht einfach vom letzten Speicherpunkt neu starten? Bei Storymissionen passiert das wenigstens noch automatisch, wenn wir mal ins Gras beißen, Nebenaufträge hingegen müssen wir konsequent wieder von vorne anfangen - was kein Problem wäre, wenn wir dazu nicht erst umständlich wieder zum Startpunkt zurücklaufen müssten.
Apropos umständlich: Warum dürfen wir kontrollierte Ork-Anführer nicht einfach über das Nemesis-Menü befehligen? Stattdessen müssen wir sie manuell (auf)suchen, was weder viel Spaß noch viel Sinn ergibt, wenn sie gerade mitten in einer Orkfestung lümmeln und ihren vermeintlichen Untergebenen offenbar partout nicht stecken wollen, wer hier eigentlich der Boss ist. Immerhin muss sich Talion im Gegensatz zu Ezio, Altair oder Connor keinen Heuhaufen suchen, wenn er mal Lust hat, unkompliziert von einem hohen Gebäude zu hüpfen. Erstaunlich, wie angenehm sich das anfühlt.
Kein Andy Serkis - trotzdem großartig
Keine Blöße gibt sich das Spiel bei der Inszenierung. Nun ja, fast keine. Man sieht ihm nämlich an, dass es sich nicht um ein »echtes« Next-Gen-Spiel handelt, dass die gleiche Engine auch auf der Xbox 360 und der PS3 laufen muss. Was nicht bedeutet, dass Mordors Schatten hässlich wäre, im Gegenteil: Gerade das zweite Gebiet des Spiels - das Nurnenmeer - wirkt mit seiner üppigen grünen Landschaft und den schroffen Steilklippen an der Küste ebenso malerisch wie imposant.
Die Region um das Schwarze Tor hingegen bleibt eigentümlich austauschbar, wir sind froh, als wir sie nach etwa der Hälfte des Spiels endlich verlassen dürfen. Das triste Braun schlägt aufs Gemüt, ohne die karge, doch majestätische Dekadenz der Peter Jackson-Filme zu vermitteln. Dafür sind die Zwischensequenzen gut gelungen, insbesondere die Rückblenden (mehr verraten wir aus Spoiler-Gründen nicht) gefallen und erinnern mit ausgezeichneten Beinahe-Film-Sequenzen an die Hochzeit der Square-Spiele. Einziger Wehrmutstropfen: Held Talion neigt in manchen Szenen dazu, furchtbar verdattert aus der Wäsche zu gucken, auch wenn das Drehbuch gerade eine andere Emotion vorsieht.
Allerdings klingt Talion sehr angenehm, im englischen Original interpretiert ihn Troy Baker (Booker deWitt aus Bioshock: Infinite) betont zurückhaltend, auch die deutsche Stimme (Connor aus Assassin's Creed 3) erledigt ihren Job sehr ordentlich. Die Show stiehlt aber erneut Gollum, in der englischen Fassung übrigens nicht von Andy Serkis gesprochen und trotzdem großartig, in der deutschen Version übernimmt mit Andreas Fröhlich wieder die »Originalstimme«. Der Soundtrack bleibt dezent, aber stimmungsvoll und untermalt gerade die Kämpfe mit einem subtilen Gefühl für die Ästhetik der rhythmischen Free-Flow-Action.
Keine Ecke, keine Kante
Nach rund 30 Stunden und fast allen erledigten Nebenmissionen fällt es gleichzeitig sehr schwer und sehr einfach, dieses Mordors Schatten zu empfehlen. Sehr einfach, weil das Spiel funktioniert, weil sich die Summe seiner mechanischen Einzelteile zu einem kurzweiligen Vergnügen zusammenfügt, weil sich die Ecken und Kanten in überschaubaren Grenzen halten. Sehr schwer, weil es nicht den Mut zu Ecken und Kanten besitzt, weil es ähnlich wie Destiny ein Spiel ist, das »ich bin Triple-A« schreit - aber zu keinem Zeitpunkt den Eindruck erweckt, aus Herzblut entstanden zu sein. Mordors Schatten steht für das moderne Open-World-Spiel: Es ist eine Formel, eine erfolgreiche zwar, aber dennoch eine Formel. Die spannende Frage lautet: Wollen wir eine Formel?
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