Ein Metzger mit eingefallenem Gesicht und toten Augen hievt einen riesigen Fleischbrocken auf den Holztisch und schlägt mit seinem rostigen Beil Stück um Stück aus dem Kadaver. Er grunzt und ächzt, während sich unsere Spielfigur ängstlich auf einem Dachbalken über dieser Szenerie zusammenkauert. Das kleine Mädchen, das wir spielen, ist eine Zwergin im Vergleich zu dem bedrohlich aussehenden Riesen unter uns, der uns spielend einfach mit einer Hand zerquetschen könnte. Aber es hilft ja nichts, wir müssen weiter, und der Weg führt über das Ungetüm hinweg. Wir atmen einmal tief durch, nehmen den ganzen Mut zusammen und setzen den ersten Schritt auf den Holzbalken.
Szenen wie diese gehören zu den absoluten Höhepunkten von Little Nightmares, das uns als das kleine Mädchen Six von einem Albtraum in den nächsten schickt. Gehetzt eilen wir einem Ziel entgegen, das wir noch nicht einmal kennen.
Ein solcher Spannungsbogen, der von einer ständigen, hintergründigen Unbehaglichkeit und Ungewissheit genährt wird, hat bereits bei den Genre-Geschwistern Limbo und Inside gut funktioniert. Das Team von Tarsier Studios will mit ihrem schaurigen Rätsel-Jump'n'Run nun in eine ganz ähnliche Sparte schlagen. Doch je mehr Zeit wir in der Welt von Little Nightmares verbringen, desto deutlicher wird, dass das Abenteuer von Six nicht an das Niveau der dystopischen Dramatik von Inside & Co. heranreichen kann.
Eine stumme Spielwelt
Das erste der insgesamt fünf Kapitel beginnt ganz unvermittelt und ohne eine ausschweifende, erklärende Introsequenz. Das Mädchen Six, dessen Gesicht durch die Kapuze ihrer gelben Regenjacke stets verborgen bleibt, kommt in einem dunklen Raum zu sich. Es gibt keine Anweisungen, keine Quest-Logs, keine Missionsmarker, sondern nur eine Öffnung in der Holzwand auf der rechten Bildschirmhälfte. Wir klettern fast instinktiv auf einen Holzkasten, dann auf ein Bett, huschen durch die Öffnung und gelangen in den nächsten Raum.
Damit haben wir den Kern von Little Nightmares bereits verstanden: Augenscheinliches Ziel des Spiels ist es, vorbei an den unterschiedlichsten Rätseln und Bedrohungen den rechten Bildschirmrand zu erreichen, dabei Raum um Raum hinter uns zu lassen, bis uns hoffentlich eine Auflösung erwartet die erklärt, was das alles eigentlich soll.
Auf dem Weg sammeln wir Hinweise, die uns die Hintergründe dieser Spielwelt allmählich wie ein Puzzle zusammensetzen lässt: Regelmäßig schwanken wir von links nach rechts, Gegenstände rollen über den Boden - wir müssen uns wohl auf einem Schiff befinden! Kurz darauf entdecken wir verlorene Schuhe, Socken und andere Kleidungsstücke, die in den Schlupfwinkeln und Geheimgängen liegen. Wer hat bereits vor uns diesen Weg gewählt? Wir suchen in den fantastisch designten Leveln und Kulissen nach Antworten auf unsere Fragen, doch unglücklicherweise beginnt die Spielwelt erst ab dem zweiten Kapitel damit, so wirklich mit uns zu sprechen.
Im Vordergrund des kompletten ersten Kapitel stehen stattdessen eine Reihe von aneinandergereihten Rätseln, die uns für die verschiedenen kommenden Herausforderungen vorbereiten sollen. Als Tutorial sind diese ersten etwa 30 Minuten gut gelungen und rüsten uns mit dem nötigsten Wissen für die kommenden Spielstunden aus, doch dieser Einstieg lässt die Spielwelt selbst verstummen: Die einzelnen Level-Abschnitte sind hier recht monoton, bevor Little Nightmares im folgenden Kapitel schließlich eine deutlich größere Farbpalette hervorzaubert - und seinen ersten Bewohner vorstellt.
Zwischen Bossgegnern und Frustmomenten
Eine Besonderheit von Little Nightmares hat uns ganz besonders gut gefallen: Ab einem gewissen Punkt konfrontiert uns der Platformer mit "Bossgegnern", die sich durch den Level bewegen und mit ihrer individuellen Kulisse interagieren. Der Metzger vom Beginn dieses Artikels beispielsweise ächzt, keucht und humpelt durch eine riesige Küche, kocht Würste, kramt nach Geschirr oder sucht Zutaten. Irgendwo in der Nähe befindet sich dann meist ein Schlüssel, mit dem wir die Tür zum nächsten Levelareal öffnen können - doch wie wir unentdeckt an den Gegenstand kommen, müssen wir erst einmal herausfinden.
Dabei sind die Rätsel so angeordnet und vorgestellt, dass wir meist sofort wissen, was von uns verlangt wird. Das erspart Frust und stumpfes Herumraten. Ganz im Gegensatz zu den Sequenzen, in denen es einzig und allein auf unser Geschick ankommt, ob wir ein Hindernis überwinden können oder das Zeitliche segnen. Immerhin sind die Checkpoints außerordentlich fair gesetzt, doch das ein oder andere Mal haben wir trotzdem inbrünstig geflucht, weil wir das enge Zeitfenster für einen Tastendruck verpasst haben.
Diese Unterbrechungen stören je nach Geschick und Glück den Spiefluss teils erheblich und vermiesen einem die eigentlich faszinierende Spielwelt. Glücklicherweise überwindet Little Nightmares im letzten Drittel diese Schwachstellen und konfrontiert uns kurz vor dem Finale mit einem Levelareal, das alle Stärken des Platformers demonstriert. Hier zeigt das Spiel sein gesamtes Potential, macht aber zugleich deutlich, wie schwach im Vergleich dazu die ersten Kapitel oder später das Finale gestaltet sind.
Ein Durcheinander aus roten Fäden
Ausgerechnet die Stilmittel, die Little Nightmares ausmachen, werden ihm auf den letzten Metern zum Verhängnis - und das aus einem ganz bestimmten Grund.
In der Spielwelt, die Tarsier Studios geschaffen hat, wird kein einziges Wort gesprochen. Stattdessen übernehmen die Bildsprache und der Soundtrack die Aufgabe, uns zu erklären, ob wir uns gerade in Gefahr befinden, was in der Hauptfigur Six vorgeht, welche Wesen freundlich und welche tödlich sind. Während der Soundtrack zielgenau und immer stimmig Ächzgeräusche, krächzendes Atmen, angsterfülltes Zischen oder bedrohliches Gurgeln verteilt, schöpft die Bildsprache vor allem aus einer Motiv-Schublade: Körperlicher Verfall und Krankheiten dienen der Charakterisierung des Bösen und Bedrohlichen, das überwunden oder überlistet werden muss.
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Neben Blind- und Taubheit oder missgestalteten Körpergliedern etabliert sich nach und nach vor allem Übergewicht als bevorzugte Eigenschaft des Dummen, Einfältigen und Niederträchtigen.
Es liegt auf der Hand, wie problematisch dieser Einsatz einer Bildsprache ist, die Essstörungen und Übergewicht als "das stupide Böse" illustriert. Unglücklicherweise treiben die Entwickler dieses Stilmittel im Finale auf die Spitze und hinterlassen damit einen außerordentlich bitteren Nachgeschmack.
Doch das ist nicht das einzige Problem des finalen Kapitels: Nachdem wir knapp vier Stunden lang der Antwort auf die Frage hinterhergelaufen sind, was es mit dieser Spielwelt nun wirklich auf sich hat, wartet auf uns eine unbefriedigende Antwort. Den Entwicklern ist es einfach nicht gelungen, die roten Fäden, die sie im Verlauf des Abenteuers an gleich mehreren Stellen fein säuberlich ausgelegt haben, am Ende wieder zusammenzuführen und leiten damit zu einer Enthüllung über, die als Magic Moment inszeniert wird, uns aber eher achselzuckend zurücklässt.
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