Segas Action-Adventure Judgment ist der Beweis: Manchmal tut ein Perspektivenwechsel einfach gut und tut not! Die langjährige Yakuza-Serie hat sich bisher hauptsächlich um den Gangster-Rentner Kazuma Kiryu gedreht, auch wenn es Serienteile gab, in denen man zeitweise in die Rolle anderer Charaktere geschlüpft ist. Die persönliche Geschichte des Ex-Yakuza fand im Frühjahr 2018 mit Yakuza 6: The Song of Life seinen befriedigenden Abschluss.
Damit ist die Bühne jetzt frei und ein neuer Hauptcharakter tritt ins Rampenlicht: Takayuki Yagami erlebt die kriminellen Machenschaften des fiktiven Rotlichtviertels Kamurocho aus der Warte eines Privatdetektivs. Das fühlt sich (und spielt sich auch) auf den ersten Blick so an wie die inoffiziellen Vorgänger, denn Optik und Spielelemente wirken gleich. Nach kurzer Zeit werden aber Unterschiede deutlich:
Der Kern des Spiels: Im Spinoff geht es um Ermittlungsarbeit, Beschattungen, Verhöre und andere investigative Tätigkeiten. Das rückt Judgment näher zu Spielen wie L.A. Noire oder Sherlock Holmes: Crimes and Punishments - nur eben mit einer Extraportion Japan-Flair.
Die Geschichte: Ein folgenschweres Urteil
Unser Held Takayuki trägt eine schwere Last mit sich herum: Vor drei Jahren gelang es ihm als aufstrebender Rechtsanwalt, einen angeklagten Mörder freizusprechen. Aber kaum war der auf freien Fuß, tötete er auf brutale Weise seine eigene Freundin. Die Staatsanwaltschaft entzog ihm zwar nicht die Anwaltslizenz, trotzdem waren die Schuldgefühle niederschmetternd.
Also beendete Takayuki seine Karriere vorzeitig und verdient sich seitdem als Privatdetektiv seine Onigiri. Hier setzt die Haupthandlung von Judgment ein: Takayuki wird auf den Plan gerufen, als ein Serienmörder in Kamurocho umgeht. Seine Opfer sind ausschließlich ranghohe Yakuza und er sticht ihnen beide Augen aus. Takayuki soll der Sache auf den Grund gehen und hat dabei Freunde an seiner Seite: Die Anwaltskanzlei, für die er ehemals gearbeitet hat, sowie einen schlagkräftigen Ex-Yakuza.
Aber das ist nur der Auftakt, denn nach den ersten Untersuchungen wird klar: Die Sache ist kompliziert, sehr kompliziert sogar. Es geht um Machtkämpfe innerhalb der Yakuza, korrupte Polizisten, eine Diebesbande mit maskierten Jugendlichen - und irgendwie hat das das alles auch indirekt mit Takayuki zu tun. Spätestens als es zu blutigen Attentaten auf offener Straße kommt, wird deutlich: Jedes Verbrechen in Kamurocho hat Auswirkungen auf all seine Bewohner - von den Obdachlosen bis hin zu den Reichen.
Spannender Krimi mit echten Darstellern
Mehr über die Geschichte wollen wir nicht verraten, denn sie ist eine der größten Stärken von Judgment. In den ersten Kapiteln sieht sich Takayuki mit Einzelfällen konfrontiert, die zunächst keinen Zusammenhang ergeben. Erst später verknüpft die spannende Handlung die Fäden.
Die Story ist nicht nur verzwickt und sehr düster, sondern verkauft ihr Publikum auch nicht für dumm. Es gibt keine an den Haaren herbeigezogenen Wendungen, sondern alles bleibt plausibel. Judgment orientiert sich an einer japanische Form des Krimigenres namens »Crime Drama«. Es ist besonders im Fernsehen als Serienformat sehr beliebt und mischt Film Noire, Justizdrama, Einzelschicksale und das klassische Detektivgenre zu einem spannenden Mix.
Die Entwickler haben sich bekannte Schauspieler ins Boot geholt, und der Hauptdarsteller Takuya Kimura ist mit genau so einer TV-Serie berühmt geworden. Das macht sich bezahlt: Judgment wäre nur halb so mitreißend, wenn die Charaktere nicht so großartig geschrieben und gespielt wären. Ihre Reaktionen bleiben glaubwürdig, ihre Persönlichkeit ist vielschichtig. Vor allem wirken sie sehr menschlich, was auch der guten Technik zu verdanken ist: Die Gesichter der realen Darsteller sind so akkurat nachgebildet, dass es in manchen Situationen fast fotorealistisch wirkt.
Bemerkenswert ist außerdem die herausragende englische Synchronisation: Die Figuren sind nicht nur sehr gut und lippensynchron gesprochen, sondern wirken geerdet. Puristen können trotzdem im japanischen O-Ton spielen. Untertitel sind auch auf Deutsch vorhanden, die Sprache lässt sich sogar während der laufenden Kampagne wechseln. Nicht nur die englischen Stimmen machen den Einstieg für Serienneulinge leicht: Auch wenn das Spiel im gleichen Universum der Yakuza-Spiele handelt, ist keinerlei Vorwissen nötig.
Gameplay-Gerüst aus den Vorgängern
Auch wenn die Geschichte und der Cast komplett neu sind, hat sich die Grundstruktur nicht geändert: Noch immer ist der Japan-Simulator aus der Third-Person-Perspektive eine Mischung aus deftigen Kampfszenen, Adventure-Aufgaben und Gesprächen in einer offenen Welt. Ach, und eine Vielzahl von Mini-Spielen gibt es oben drauf.
Alle Elemente gehen fließend ineinander über und wechseln sich während der Kampagne so ab, dass nie Langeweile aufkommt. Naja, fast, denn die einzige Schwäche sind Beschattungen. Dabei muss Takayuki Zielpersonen verfolgen, was durch die langen Laufwege ermüdend sein kann. Erst später im Spiel werden diese Szenen anspruchsvoller, weil es dann auch durch große Menschenmengen geht.
Die anderen neuen Elemente machen Spaß: Takayuki führt Befragungen durch, sucht an Tatorten nach Beweisen, oder macht mit einer Flugdrohne verdächtige Personen in Gebäuden ausfindig. Man fühlt sich wie ein richtiger Ermittler - auch wenn die Handlung sehr linear ist und man keine falschen Entscheidungen treffen kann.
Straßenprügelei
Auf dem Weg zu wichtigen Schauplätzen kann Takayuki auf der Straße angegriffen werden. Ohne Ladezeit geht's dann in einen Kampfmodus, in dem man sich meistens gegen Bandenmitglieder und Straßenschläger zur Wehr setzt. Takayuki beherrscht zwei Kampfstile, die wie eine Art improvisiertes Kung-Fu aussehen:
Der »Kranich-Stil« ist für größere Gruppen gedacht. Die Manöver sind großflächiger und treffen mehrere Feinde, sind dafür aber nicht so stark wie beim »Tiger-Stil«. Der ist langsamer, dafür aber auch wirkungsvoller. Mit ihm kann Takayuki einzelne Personen effizienter angreifen. Während des laufenden Kampfes darf man den Stil wechseln, das ist besonders bei Zwischen- und Endbossen nötig. Je widerstandsfähiger ein Gegner ist, desto eher muss man den Tiger loslassen - ohne sich dabei von den Schergen drumherum einkreisen zu lassen.
Flink wie Bruce Lee
Im Vergleich zu Kazuma aus der Yakuza-Reihe ist Takayuki weitaus flinker und schneller. Er wirbelt fast tänzerisch herum, macht Handstände und fliegt mit Saltos über seine Gegner hinweg. Besonders cool: Takayuki kann Parkour-mäßig an Wänden hochlaufen und von ihnen abspringen, den Schwung nutzt er für besondere Angriffe. Und die hauen seine Gegner regelrecht von den Socken!
All das steuert sich eingängig und nachvollziehbar. Wunderbar ist dabei der Sound: Jeder Treffer hat einen richtig saftigen, vollen Klang, der durch Mark und Bein geht! Das kommt insbesondere bei sogenannten Ex-Moves zur Geltung: Während der Prügeleien lädt sich ein Ex-Balken auf. Sobald dieser voll ist, kann Takayuki kontext-sensitive Sonderangriffe ausführen. Steht ein Feind zum Beispiel an einer Werbetafel, schmettert ihn der wehrhafte Detektiv hinein.
Diese Aktionen sind kleine Zwischensequenzen, die aber nicht zu lang sind. Sie unterbrechen den Flow nicht und sorgen für Humor. Einige dieser Szenen sind nämlich herrlich bescheuert: Wird Takayuki an einem Spielplatz angegriffen, kann er zum Beispiel eine Schaukel als Waffe zweckentfremden. Das darf er auch mit Alltagsgegenständen, etwa Verkehrshüten oder Fahrrädern.
Diese Prügelszenen nagen natürlich etwas an der Logik unserer Heldenrolle, auch wenn Takayuki niemanden tötet und sich nur verteidigt. Der erste Schlag geht immer von den anderen aus. Straßenkämpfe, die nicht zur Haupthandlung gehören, lassen sich aber ohnehin einfach umgehen.
Reich an Erfahrung
Neue Fertigkeiten für den Kampf gibt's durch Erfahrungspunkte, die es wiederum für alle erfolgreichen Aktionen im Spiel hagelt: Abgeschlossene Hauptmissionen, Erfolge in Mini-Spielen, Gesundheitsregenerierung durch Essen im Restaurant - egal was Takayuki tut, er wird mit Punkten belohnt. Das gilt auch für die Nebenmissionen, in denen seine investigativen Fähigkeiten gefragt sind.
Die Aufgaben erhält er zum Beispiel in der Anwaltskanzlei, sie schwanken zwischen ernst und witzig. Mal muss Takayuki mit Beweisfotos einen Ehebruch nachweisen, mal geht es auf die Suche nach einem Schlüpfer-Dieb. Durch einige dieser Nebenaufgaben kann der Detektiv weitere Freundschaften schließen, die wiederum Vorteile im Spiel eröffnen. Manches davon ist trivial, etwa neue Gesichtsausdrücke für Selfies per Smartphone. Anderes gravierender, zum Beispiel neue Kampffertigkeiten. Stehen Freunde bei Straßenkämpfen zufällig am Rand, werfen sie einem manchmal Heilgegenstände zu.
Alle Facetten und Möglichkeiten der detailreichen Spielwelt zu entdecken macht einen großen Reiz von Judgment aus. Die Umgebung sieht jederzeit unglaublich lebendig aus und reizt zum Erkunden. Die Entwickler verzichten auf so manch modernen Grafikeffekt, legen den Fokus dafür aber auf Texturen, Gesichter und Lichtstimmung.
Das ist klug, denn besonders in Bewegung wirkt Kamurocho deshalb überzeugend. Betritt man zum Bespiel einen Laden, wird man regelrecht mit Details überrumpelt: Die Regale sind vollstopft mit allen erdenklichen Produkten, und besonders aus der optionalen Ich-Perspektive hat man fast das Gefühl, im echten Japan unterwegs zu sein. Das ist wenig verwunderlich, die Welt ist schließlich realen Vorbildern nachempfunden.
Der Nachteil bei der Optik ist aber, dass manche Innenräume karg und wenig plastisch wirken. Das liegt an fehlenden Schatten, die offensichtlich aus Performancegründen weggefallen sind. Gebäude kann man in den meisten Fällen ohne Ladezeit betreten, was die PS4 Pro flüssig schafft. Auf der Standard-PS4 kommt es aber vereinzelt zu Rucklern. Nicht schlimm, denn Judgment ist insgesamt so stark, dass man gerne über solche Schwächen hinwegsieht.
Einen spannenderen Japan-Krimi findet ihr nirgendwo!
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