Wie sollte eine gelungene Fortsetzung aussehen? Im Bestfall schnappt sie sich die spielerischen Stärken ihres Vorgängers, verfeinert sie und bügelt bei der Gelegenheit dessen Schwächen gleich mit aus. Natürlich sollten auch die Story und der Umfang mindestens dasselbe Niveau halten. Das Open-World-Action-Adventure Lost Judgment meistert all das mit Bravour. Allerdings ist es dadurch umso offensichtlicher, wenn das Yakuza-Spin Off zwischendurch stolpert.
Achtung, verstörende Inhalte:
Lost Judgment behandelt Themen wie Suizid, sexuelle Belästigung und Mobbing.
Gewohnt komplexe Geschichte, aber mit Startschwierigkeiten
Lost Judgment beginnt drei Jahre nach dem Ende von Judgment. Unser Protagonist, Detektiv Takayuki Yagami, soll ein Mobbingproblem an einer Privatschule untersuchen. Währenddessen wird ein Mann wegen sexueller Belästigung zu einer Haftstrafe verurteilt. Nach dem Urteil behauptet er im gefüllten Gerichtssaal: In einer benachbarten Stadt wurde vor drei Tagen eine Leiche gefunden. Dabei scheint es sich um einen vermissten Referendar zu handeln, der den Sohn des Angeklagten in den Suizid getrieben haben soll. Außer dem Verurteilten schien bisher aber niemand von der Leiche zu wissen.
Früh macht Lost Judgment klar: Das Mobbing an der Schule, der Mann und die Leiche sind wohl miteinander verbunden. Wir müssen herausfinden, was es damit auf sich hat. Bis wir überhaupt die ersten vagen Antworten erhalten, ist jedoch Geduld gefragt, denn Lost Judgment verlagert viele seiner zentralen Informationen und Charaktere an seinen Anfang.
Das führt zu einem recht zähen Einstieg, der sich über vier bis fünf Stunden zieht. Danach flext Lost Judgment aber mit seinen narrativen Muskeln, wie man es mittlerweile von Entwickler Ryu Ga Gotoku Studio gewohnt ist. Kapitel für Kapitel entsteht über rund 30 Stunden ein komplexes, dichtes Storynetz voller dramatischer Wendungen, das sich unter anderem mit den Ursachen und Folgen von Mobbing, Reue und Rache auseinandersetzt, sich aber leider auch in Laberei und regelmäßige Wiederholungen bekannter Infos verläuft.
Eine Stadt ist nicht genug
Dieses Mal inspizieren wir nicht nur die Straßen des fiktiven Tokioter Rotlichtviertels Kamurocho, das Schauplatz von Judgment sowie der meisten Yakuza-Titel war. Stattdessen verbringen wir den Großteil unserer Zeit im knapp doppelt so großen Viertel Ijincho in Yokohama, wo die Leiche gefunden wurde und sich die Privatschule befindet. Yakuza-Fans sollten sich direkt zuhause fühlen, schließlich spielte Yakuza: Like a Dragon ebenfalls hier.
Ijincho und Kamurocho sind, wie immer, überwältigend detaillierte Abbilder japanischer Innenstädte, von den glühenden Neonschildern bei Nacht über die engen Seitenstraßen bis zu den Restaurants mit authentischer lokaler Cuisine. Für den vollständigen Japan-Vibe bietet es sich an, Lost Judgment im gewohnt hochklassigen O-Ton zu spielen. Wer lieber auf die englische Synchro zurückgreifen möchte, muss jedoch keine Qualitätseinbußen fürchten. Sie kann sich mühelos mit der japanischen messen. Eine deutsche Vertonung gibt es nicht, dafür aber deutsche Bildschirmtexte.
Ein rundum verbessertes Kampfsystem
Wenn wir nicht die liebevoll gestalteten Städte bestaunen oder uns lange Zwischensequenzen mit Informationen füttern, wird reichlich gekämpft. Das Grundgerüst der Konfrontationen hat Lost Judgment von seinem Vorgänger übernommen. Auf den Straßen begegnen wir regelmäßig Gegnergruppen; sobald sie wir ihnen zu nahe bekommen, beginnt automatisch das Gefecht - ohne Ladepausen und in Echtzeit.
Yagami verfügt weiterhin über zwei Kampfstile, Kranich (schnelle Angriffe mit hoher Reichweite, ideal für Gruppenkämpfe) und Tiger (langsame, kräftigere Attacken, geeignet für Eins-gegen-Eins-Duelle). Beide wurden um einige Manöver erweitert, sodass auch Spieler*innen von Judgment neue Facetten während der Prügeleien entdecken werden.
Gänzlich neu ist der dritte Stil, Schlange. Er erlaubt uns, Gegner zu parieren, verängstigte Widersacher - ebenfalls eine neue Mechanik - sofort zu besiegen und, vielleicht am wichtigsten, bewaffnete Gegner zu entwaffnen. Damit verbessert Lost Judgment eine der größten Schwächen des Kampfsystem seines Vorgängers. Das hatte keine gesonderte Lösung für Gefechte mit bewaffneten Gegnern, die enorm hohen Schaden austeilen. Stattdessen lautete die ernüchternd eindimensionale Devise: Schlage sie, bevor sie dich schlagen.
Drastisch komplexer werden die Schlägereien dadurch nicht. Unterm Strich ist auch Lost Judgment »nur« ein niedrigschwelliger Prügler. Die erweiterten Kampfstile und neuen Manöver erlauben uns aber einen flexibleren und kreativeren Umgang mit unseren Gegnern - was gerade bei einem simplen Kampfsystem längerfristig motiviert. Dass wir jetzt auch die verheerenden Spezialangriffe stärkerer Gegner mit allen drei Stilen kontern können - und sie bei einem Treffer nicht länger unserer maximale Lebensenergie reduzieren - lindert zudem Frust.
Mehr Nebenaufgaben als alles andere
Auch abseits der Kämpfe hat sich Lost Judgment auf den Ausbau der Elemente seines Vorgängers konzentriert. Und zwar so stark, dass wir alle Neuerungen hier nur im Schnelldurchlauf anschneiden können. Die zahlreichen Detektiv-Minispiele kehren zurück, sind dieses Mal aber deutlich komfortabler und interaktiver. Dazu erhalten wir neue Detektivspielzeuge wie ein Abhörgerät - oder einen Hund, der für uns Hinweise erschnüffelt. Außerdem gibt es jetzt Schleichpassagen à la Metal Gear Solid.
Einige Nebenaufgaben müssen wir jetzt via Schlagwortsuche auf unserem Smartphone finden, andere können wir - wie in Judgment - in unseren Detektivbüros annehmen. Natürlich sind die wieder erfrischend absurd. So ist es nicht ungewöhnlich, wenn ein russischer Ex-Soldat namens Borscht Kalashnikov eine geheime Ninja-Schule führt und regelmäßig Naruto zitiert.
Die Schule dient zudem nicht nur als opulente Kulisse: Yagami muss früh als Vorsitzender des Detektivclubs einspringen, um seine Investigation der Mobbingfälle fortsetzen zu können. Dabei dürfen wir auch andere Schulclubs besuchen, die alle mit eigenen Minispielen und Handlungssträngen aufwarten. Bevor wir uns versehen, bringen wir so zum Beispiel den Tanzclub zurück zu altem Prestige - indem wir mit Yagami in einem Rhythmus-Minispiel tanzen und zwischendurch eine kriminelle Organisation mit unseren Fäusten konfrontieren.
Der Rest bleibt beim Alten. Wenn wir gerade keine Muße für Geschichten haben, können wir zum Beispiel Darts, Baseball oder Shogi spielen oder die Sega-Arcades besuchen, wo uns spielbare Versionen von Klassikern wie Virtua Fighter oder Fantasy Zone erwarten. Langweilig sollte es in Lost Judgment also niemandem werden. Wer tatsächlich die Zeit aufbringen möchte, allen Nebenaufgaben und -tätigkeiten nachzugehen, wird schnell an den 100 Stunden kratzen.
Wo bleiben die großen Schwachpunkte?
Bis auf den langsamen Start gab es bisher nicht viel zu meckern. Das heißt nicht, Lost Judgment sei gänzlich frei von weiteren Schwächen. Die Story verliert regelmäßig ihren Fokus. Mal stellt sie das Mobbing in den Vordergrund, dann sticht wieder die Yakuza-DNA hervor und es geht um organisierte Kriminalität und große Verschwörungen. Das Schlimme daran ist: Bei beiden Themen beweist Lost Judgment Stärke beim Erzählen. Doch weil es nie so recht weiß, wo der Schwerpunkt der Handlung am Ende liegen soll, kommt keinem Thema ausreichend Zeit und Raum zu. Besonders schade ist das beim Mobbing, denn Gangster-Geschichten kennen wir durch Yakuza und auch Judgment, das zumindest fokussierter erzählte, bereits zur Genüge.
Auch die Grafik hat ihre Mängel, trotz aller bemerkenswerten Details. Manche Texturen sind verwaschen, andere sind so platt, dass sie an Tapeten erinnern. Gerade im Tageslicht oder in Gebieten mit wenig Schatten wirken sämtliche Umgebungen obendrein arg steril. Dafür läuft Lost Judgment im Performance-Modus auf der PS5 mit stabilen 60 Bildern pro Sekunde; der 4K-Modus bessert zumindest einige der matschigen Stellen aus. Außerdem ist die Musik recht generisch. Sie erfüllt ihren Zweck, bietet aber kaum Highlights - ein Problem, unter dem schon Judgment und die Yakuza-Spiele litten.
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