Einweg- oder Pfandflasche?
Dafür gefallen uns die teils ungewöhnlichen Ausrüstungsgegenstände, die wir nicht nur im Kampf einsetzen können. Torment kennt hier grundsätzlich zwei besondere Item-Gruppen: Cypher und Artefakte. Cypher sind sozusagen Einweg-Flaschen – einmal benutzt, verschwinden sie wieder. So beschwören wir ein Alien-Wesen, schleudern eine Bombe oder starten vor dem nächsten Dialog eine Charme-Offensive, um unser Gegenüber einfacher einzuwickeln.
So mächtig die Cypher auch sind, bergen sie trotzdem Gefahren. Denn wenn wir zu viele mit uns herumtragen, leiden wir unter Chiffritis, nämlich immer stärkere Mali. Wenn wir zum Beispiel fünf statt vier erlaubter Cypher mitführen, kassiert unser Recke einen Geschwindigkeits-Abzug.
Sind es drei zu viel, wird der Abzug stärker, wir kriegen mehr Probleme, Skill-Tests zu bestehen. Bei einer richtig heftigen Chiffritis kann unser Held sogar spontan explodieren ...
Zum Glück gibt's aber auch passende Artefakte. Die wiederum sind sozusagen Pfandflaschen, die wir immer wieder benutzen können: Einen Ring zum Beispiel, der die Anzahl mitgeführter Cypher erhöht. Oder besonders starke Waffen und Implantate. Etwa ein Erinnerungs-Artefakt, das unter unsere Haut gepflanzt wird und bei unseren Angriffen immer eine alte Narbe oder Wunde beim Gegner markiert, sodass wir mehr Schaden austeilen.
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Klar, letztendlich ist das ein nüchternes »Damage +2« – aber die Beschreibung mit der automatischen Wunden-Zielsuche klingt gleich viel interessanter. Ähnlich verfährt das Spiel mit einer dritten Item-Kategorie, den Kuriositäten. Das sind einfach nett beschriebene Objekte, die nix bringen außer einem ordentlichen Verkaufspreis.
Mit der Armbrust durch den Teleporter
Torment: Tides of Numenera mischt munter völlig verschiedene Zeitalter und Szenarien miteinander. Wir kämpfen mit Armbrust und Schwert – und marschieren danach durch einen Teleporter, der uns wiederum zu einem fliegenden Schiff bringt.
Überall stehen fremdartige Maschinen herum, Überbleibsel vergangener Epochen, deren Schalter wir sofort betätigen wollen, nur aus Neugier. In einer archaischen unterirdischen Schmiede kommt das Feuer nicht von unten aus einer Esse, sondern von oben aus Raumschiff-Triebwerken.
Immer wieder landen wir in unserem eigenen Bewusstsein, in den Erinnerungen von anderen Personen, in einer fremdartigen Dimension. Diese einzigartige Mischung aus Vertrauten und Fremden macht das Spiel so faszinierend.
Und die teils philosophischen Themen, die uns beschäftigen. In besagter Schmiede stoßen wir zum Beispiel auf einen Roboter, der sich Kinder wünscht. Ein Roboter. Kinder. Völlig undenkbar. Oder doch nicht? Irgendwie hat er es schon fast geschafft, Kinder in die Welt zu setzen – die aber immer kurz nach der Geburt sterben, weil ihnen die Energie fehlt.
Die grausige Lösung: Papa-Bot muss ihnen seinen eigenen Saft einspeisen und dabei sterben, dafür braucht er von uns ein bestimmtes Teil. Sollen wir ihn auslachen? Den Wunsch ausreden? Oder das Teil besorgen und gucken, was passiert? Wir entscheiden uns für letzteres – und der Roboter wird tatsächlich Papa von Mini-Robotern. Und stirbt daran.
Wenn wir jetzt fies wären, würden wir seine Nachkommen einsacken und als Energiequelle einsetzen, oder beim nächsten Händler verkaufen. Doch wir lassen sie davonwackeln und behalten nur den einzigen totgeborenen Mini-Roboter. Und selbst den verkaufen wir nicht, weil sich das einfach nicht richtig anfühlen würde...
Sklavenbefreiung
Solche Situationen kommen in Torment oft vor. Immer wieder lassen wir unser Herz entscheiden, obwohl der Spieler-Verstand uns für bekloppt hält. Das wird besonders deutlich, als sich drei unserer Tester für das gleiche Party-Mitglied entschieden haben, die im Übrigen vom Fantasy-Autoren Patrick Rothfuss (»Der Name des Windes«) erdacht wurde.
Rhin ist weder eine flotte Fechterin noch eine martialische Magierin – sondern ein zehn- oder elfjähriges Mädchen, das aus der Sklaverei geflohen ist. Ihre Verfolger haben wir verjagt, aber sollen wir die Kleine echt in dem verfallenen Haus zurücklassen oder – noch fieser – der Sklavenhändlerin übergeben, die nach ihr sucht?
Wir bieten ihr einen Platz in der Gruppe an. Dafür muss allerdings jemand anders gehen. Auf einen starken Begleiter verzichten, um ein Mädchen mitzunehmen, das gerade mal einen Dolch richtig rum halten kann?
Klar, Rhin kann ganz gut schleichen und lernt später mal einen ordentlichen Heil-Skill – kommt aber nie an einen der übrigen Begleiter heran. Und trotzdem: Diese Entscheidung fühlt sich richtig an, wir entwickeln schnell elterliche Gefühle für unseren Schützling – das ist echtes Rollenspiel!
Wer Rhin zurücklässt, verpasst zwar einen großartig geschriebenen Charakter, bekommt aber auch ohne sie ein durchgehend spannendes Abenteuer, das je nach Spieltempo zwischen 30 und 40 Stunden auf höchstem Story-Niveau unterhält und damit ähnlich umfangreich ausfällt wie seinerzeit Planescape: Torment.
Da es zudem auch dank unterschiedlicher Enden unmöglich ist, in einem Anlauf alles zu sehen und zu erleben, zählt Tides of Numera zu einem der wenigen Rollenspiele, bei denen ein zweites Durchspielen nicht nur möglich, sondern dringend zu empfehlen ist. Genau wie damals vor 17 Jahren beim großen Vorbild. Operation gelungen, Torment lebt.
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