Die Geschichte des Videospiels droht immer wieder in Vergessenheit zu geraten. Weil sich Software, anders als Filme oder Musik, nicht einfach in neue Formate übertragen lässt, gehen mit jeder neuen Konsolengeneration alte Spiele verloren. Zwischen der rechtlichen Grauzone von Emulatoren und langsam aber sicher aussterbender Hardware liegt die Konservierung in den Händen der Rechteinhaber.
Jahrelang kämpften Fans mit der Kampagne #SaveShenmue für die Erhaltung eines Spiels, das einen besonderen Platz in dieser Geschichte einnimmt. Zu seiner Zeit war Shenmue mit einem Budget von über 50 Millionen US-Dollar die bis dato teuerste Videospielproduktion. Seine Einflüsse lassen sich noch heute in zahllosen Titeln wiederfinden. Nun erfüllt Sega endlich den Wunsch der Fans und bringt die ersten beiden Kapitel des (noch) unvollendeten Epos von Yu Suzuki fast 20 Jahre später in der Shenmue 1 & 2 Collection auf moderne Plattformen.
Vom Waisenkind zum Weltreisenden
Die Geschichte von Shenmue beginnt im Winter 1986. Teenager Ryo Hazuki erlebt die Ermordung seines Vaters durch den mysteriösen Lan Di mit und sinnt auf Rache. Nur muss er dafür erst einmal herausfinden, wohin dieser verschwunden ist. Vom verschlafenen Vorort der japanischen Hafenstadt Yokosuka aus beginnt Ryo mit der Detektivarbeit und stößt auf eine mystische Verschwörung.
Die ersten beiden Teile von Shenmue umfassen die ersten fünf einer auf elf Kapitel ausgelegten Story. Entsprechend gemächlich entfaltet sich die Handlung - und gipfelt in einem äußerst unbefriedigenden Cliffhanger, der seinen Teil zum legendären Status der Serie beigetragen haben dürfte. Zum Vergleich: Shenmue 2 endet ungefähr an der Stelle, als Luke Skywalker den Todesstern entdeckt. Weiter geht die Geschichte dann 2019 im verspäteten Nachfolger Shenmue 3.
Release-Datum von Shenmue 3 bekannt
Ryo Hazukis Abenteuer geht im August 2019 weiter
Der erste Walking Simulator
Shenmue gilt als Vorreiter des Open-World-Genres. Wer es heute zum ersten Mal spielt, muss seine Erwartungen allerdings anpassen. Yokosuka besteht aus einer Handvoll Straßen. Das Hong Kong des zweiten Teils ist schon deutlich größer, aber noch immer weit vom Umfang einer kompletten Stadt entfernt.
Auch heute noch beeindruckend ist die Liebe zum Detail, mit dem die kleine Welt zum Leben erweckt wird. Yokosuka und Hong Kong bestehen zwar jeweils nur aus wenigen Straßen, wirken aber dennoch lebendig. Geschäfte öffnen und schließen, Angestellte pendeln zur Arbeit und genießen den Feierabend in der Bar, Kinder spielen auf der Straße, bis sie ins Bett müssen.
Gerade die belebten Straßen der städtischen Umgebungen erzeugen nach wie vor eine dichte Atmosphäre, wie es selbst grafisch zeitgemäßere Titel nicht immer schaffen.
Eine Atmosphäre, der klassisches Gameplay größtenteils untergeordnet ist. Auf der Suche nach Lan Di folgt man einer Brotkrumenspur von einem Hinweis zum Nächsten. Ryo muss jeden Tag mit Nebenjobs (etwa Gabelstaplerfahren am Hafen) Geld verdienen, um sich im ersten Teil ein Schiffsticket nach Hongkong leisten zu können - allerdings gibt es zahlreiche Verlockungen, die euch die Kohlen anderweitig raushauen lassen: etwa Gashapon-Automaten mit Sammelfiguren bekannter Sega-Charaktere oder Spielhallen, in denen ihr Space Harrier und Outrun zocken könnt.
Von Virtua Fighter inspirierte Prügelspielpassagen, Minispiele und Quick-Time-Events (ein Begriff, den Shenmue prägte) sind eher nebensächlich. Im Mittelpunkt steht das Erkunden der Umgebung. Shenmue hat mit seiner gemächlichen Art noch ein weiteres Genre vorweggenommen. Hätte es den Begriff damals schon gegeben, wäre es vermutlich als Walking Simulator verschrien.
Alte Grafik und neue Fehler
Technisch bleibt das Original größtenteils unangetastet. Kantenglättung und Breitbildformat sind willkommene Verbesserungen, fallen aber erst dann wirklich auf, wenn man sie im Menü ausschaltet. Durch ihren naturalistischen Stil macht sich die Grafik in HD überraschend gut, von matschigen Texturen einmal abgesehen.
Ansonsten präsentiert sich Shenmue mit dem ganzen Charme eines 3D-Spiels um die Jahrtausendwende. Die Kamera scheint die Bewegungsfreiheit in den Zwischensequenzen so sehr zu genießen, dass sie selbst in der einfachsten Schuss-Gegenschuss-Einstellung nie stillsteht. Diese Verspieltheit zieht sich durch. Jeder Winkel der Welt ist mit so vielen Details gefüllt, wie es die Technik damals erlaubte.
Zu den Alterserscheinungen gesellen sich zumindest auf der PlayStation 4 einige neue Fehler. Gelegentlich kommt es zu kleineren Aussetzern der Soundeffekte oder kleinere Gegenstände werden nicht angezeigt. Wirklich ärgerlich sind auch die teils kaputten Zwischensequenzen, in denen die Kamera stur in den Himmel blickt.
Die Sprachaufnahmenvon damals wurden offenbar auch nicht sorgfältig archiviert, die Dialoge klingen wie aus dem Dosentelefon. Immerhin kann man beim ersten Teil endlich zur japanischen Tonspur wechseln - das Original war in der westlichen Fassung nur auf Englisch spielbar. Die hat zwar auch keinen besseren Sound, wirkt aber immerhin nicht so unfreiwillig komisch wie die steife Betonung der englischen Version. Der Soundtrack hingegen klingt besser denn je. Die wunderschönen orchestralen Arrangements haben die Zeit überdauert. In keinem Aspekt des Spiels sind die epischen Ambitionen deutlicher zu spüren, als in der Musik.
Zeitreise ins Jahr 2000
Shenmues Einfluss auf interaktive Filme wie Detroit: Become Human bis hin zu Indiespielen wie Gone Home ist kaum zu übersehen. Vermutlich hat jeder schon einmal ein Spiel gespielt, das auf die eine oder andere Art von Yu Suzuki beeinflusst wurde. Trotzdem dürfte Shenmue kein Spiel für jeden sein. Wer eine vergleichbare Inszenierung, verpackt mit einer flotteren Spielerfahrung sucht, ist beim spirituellen Nachfolger Yakuza 0 sicher besser aufgehoben.
"Zeitlos" wäre das falsche Wort, um Shenmue zu beschreiben. Im Gegenteil ist es deutlich ein Kind seiner Zeit, kurz bevor Grand Theft Auto 3 oder Morrowind das Bild eines Open-World-Spiels festigten, das wir bis heute kennen. Mit denen hat es wenig Ähnlichkeit, auch wenn es viele Grundlagen gelegt hat.
Gigantische, lebendige, frei begehbare Spielwelten sind heute zum Standard geworden. Gerade angesichts dieser Allgegenwärtigkeit ist es erfrischend, noch einmal auf ihre bescheidenen Anfänge zurückzublicken. Die Neuveröffentlichung von Shenmue ist so gleich im doppelten Sinn eine Zeitreise. Zum einen in das Japan der 80er-aber auch in eine Zeit, kurz bevor Videospielwelten zu dem wurden, wie wir sie heute kennen. Darauf muss man sich allerdings einlassen, um den Klassiker trotz der nicht von der Hand zu weisenden Alterserscheinungen zu genießen.
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