Manche Themen würden viele am liebsten ignorieren: Traurigkeit. Unzufriedenheit. Sich verloren fühlen. Sea of Solitude, ein Adventure des Berliner Studios Jo-Mei, weicht diesen Dingen jedoch nicht aus, sondern stellt sie in das Zentrum ihrer Geschichte.
Das Spiel über das Monstermädchen Kay, das sich mit inneren und äußeren Dämonen auseinandersetzen muss, hat eine wichtige Botschaft zu vermitteln: Traurig sein ist nicht verboten, sondern ein Teil des Lebens.
Die Frage ist jetzt jedoch: Schafft es Sea of Solitude auch, sie erfolgreich zu vermitteln?
Erinnern erfahren
In dem Indie-Adventure geht es mehr um das Erleben der Geschichte und nicht um komplexes Gameplay. Als Kay streifen, schwimmen oder fahren wir durch halb im Meer versunkene Städte, in der Hoffnung, etwas oder jemanden zu finden, der uns wieder menschlich macht. Je mehr verborgene Orte wir in dieser fantastischen Welt freilegen, desto tiefer dringen wir auch in Kays Lebensgeschichte ein und finden dabei Erinnerungen, die sie lange Zeit in sich begraben hatte.
Manchmal versperren sie uns als Rätsel getarnt den Weg voraus. So sitzen unsere Sorgen beispielsweise in der Form einer bösartigen schwarzen Auster mitten in einem wichtigen Durchgang. Wir kommen nur weiter, wenn wir im wahrsten Sinne des Wortes Licht ins Dunkel bringen. Das bedeutet, in schwarzen Rauch getauchte, düstere Gedanken im Umfeld finden, uns ihnen stellen und sie dadurch zu leuchtenden, bewältigten Erfahrungen machen.
Dabei steht jedoch immer die Geschichte im Vordergrund, weswegen die Steuerung nicht übermäßig komplex ist. Das Finden und Bewältigen der traurigen Gedanken spielt sich nicht etwa wie ein Bosskampf in Dark Souls, sondern wie ein Geschicklichkeitsrätsel, wie wir sie beispielsweise auch in Zelda finden würden: versteckte Schlüsselitems, die wir über einen Hindernisparcours zum passenden Schloss bringen müssen.
Eine große Herausforderung sind sie nicht. Wir schaffen es fast immer beim ersten Versuch, das entsprechende Rätsel zu lösen. Das sorgt auch dafür, dass wir die tiefschürfenden Dialoge nicht wieder und wieder anhören müssen, weshalb sie ihre emotionale Wirkung nicht verlieren.
Visuell beeindruckend
Statt an verzwickten Passagen zu verzweifeln, lehnen wir uns also in unserem Boot zurück und genießen die Aussicht. Visuell ist Sea of Solitude nämlich wirklich schön. Das leuchtend azurblaue Wasser schwappt gegen alte, versunkene Häuser, von denen nur noch das Dach über die Wasseroberfläche herausschaut.
Der Grafikstil ist eine Mischung aus fantastisch und realistisch, was zu der Traum- beziehungsweise Gefühlswelt passt, in der wir uns bewegen. Wenn die Kulissen alter Disneyfilme wie Susi und Strolch oder 101 Dalmatiner in 3D animiert wären, würden sie sich problemlos in die Spielwelt einfügen.
Trotzdem oder gerade deswegen schafft es Sea of Solitude, schon allein mit der Umwelt, eine großartige Stimmung zu vermitteln. Genau, wie die in einer schweren Zeit von jetzt auf gleich wechseln kann, ändert sich auch das Wetter in Kays Welt unvermittelt. Kommt sie einer neuen, schweren Erinnerung nahe, ziehen sich die Wolken zu und der harmonische Soundtrack weicht Donnergrollen und Kays verängstigten Lauten. Zusammen mit ihrem Monolog wissen wir zu jeder Zeit genau, wie sie sich fühlt und können ihre Emotionen nachvollziehen.
Die Bewohner dieser Traumwelt unterstützen das. Das Monstermädchen sieht trotz ihres pechschwarzen Federkleids und der knallorangenen Augen liebenswert und bisweilen verletzlich aus, und sogar die hausgroßen Wesen, denen sie begegnet, wirken zwar respekteinflößend, aber zugänglich. Das eindeutig nicht menschliche Gesicht eines Raben beispielsweise spiegelt dank ausgeprägter Mimik so viel Emotionen wider, dass es gar keinen Dialog braucht, um dessen Angst zu spüren.
Angst kennt jeder
Mit Sea of Solitude verrät Autorin Cornelia Geppert sehr viel über ihr eigenes Leben und das der Menschen aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis. Vieles davon sind Dinge, die den Betroffenen merklich an die Substanz gegangen sein müssen.
Um diese Gefühle ins Spiel zu bringen, nutzen die Entwickler optische Schablonen, mit denen jeder etwas anfangen kann: Bedrohlich wirkende, schwarze Monster mit Stacheln und Krallen. Dunkle Räume voller stechender, feindseliger Augenpaare. Immer wieder das Bild von einer kleinen Figur allein auf einem riesigen Ozean.
Doch ein paar Design-Entscheidungen sorgen dafür, dass die durchaus wichtige Botschaft, die vermittelt werden soll, nicht bei jedem ankommt. Beispielsweise hat Sea of Solitude - obwohl es sich bei dem Titel um ein deutsches Spiel handelt - ausschließlich eine englische Vertonung. Das wird dann zu einem Hindernis, wenn in Szenen mit mehr Action gleichzeitig wichtiger Dialog abgespielt wird. Wer hier nicht problemlos Englisch versteht, dem entgehen vielleicht elementare Handlungsstränge.
Mensch, wie siehst du denn aus?
Auch die Animation der Menschen kann die Immersion brechen. Während die Fantasywesen, die Städte und das Meer fast schon erhaben wirken, machen die Humanoiden mit ihren Knubbelnasen einen unpassend drolligen Eindruck. Das wirkt nicht gewollt, denn diese Optik will nicht so recht zum Rest passen. Sie reißt uns aus eigentlich berührenden Momenten und verhindert mit unpassender Komik, dass das Spiel seine Wirkung entfaltet.
Dabei müssen Figuren in einem ernsten Spiel nicht fotorealistisch sein, das hat beispielsweise What Remains of Edith Finch bewiesen. Von Märchenbuchzeichnungen über 80er-Jahre-Slasher-Comics vereinte es völlig unterschiedliche Grafikstile, die dennoch harmonieren und dafür sorgen, dass die Geschichte durchgehend berührt.
Kein Mensch ist gleich
Zwar ist Sea of Solitude, wenn es um die Vermittlung von Gefühlen durch Bilder geht, in großen Teilen wirklich stark, das Problem des Spiels liegt aber in der Spezifität seiner Geschichte. Depressionen haben viele Facetten, denn kein Mensch ist gleich, und damit sind auch die individuellen Probleme und Sorgen nicht gleich.
Das ist etwas, das Sea of Solitude mit seinem sehr eigenen und spezifischen Fokus nicht jedem vermitteln kann. Charaktere und Situationen bleiben durch die persönliche Note schwer greifbar und schaffen es nicht, emotional so zu berühren, wie es ein Spiel mit diesem Thema schaffen müsste.
Damit hat Sea of Solitude aber auch ein schweres Los: Universelle Gefühle wie Trauer oder Angst sind immer einfacher zu vermitteln als die Besorgnis in einer ganz bestimmten Situation. Beispielsweise kennt jeder das Gefühl, zu Fallen, aber nicht jeder hat schon einmal einen Überschlag mit der Schaukel gemacht und ist daraufhin auf dem Gesicht gelandet. Das Spiel konzentriert sich eher auf den sehr speziellen Überschlag als auf den Schmerz beim Fallen.
Anders als beispielsweise in Dear Esther, in der vor allem das Gefühl des Verlustes transportiert wird, oder Depression Quest, das den Alltag eines Menschen mit Depression begreifbar macht, dreht sich Sea of Solitude um konkrete Erlebnisse, die wir aber als unsere eigenen erleben sollen. Und von denen fühlen wir uns entweder abgeholt - oder nicht. Am Ende sind es unsere eigenen Erlebnisse und Geschichten, die bestimmen, wie sehr uns Sea of Solitude in seinen Bann zieht. Und in unserem Fall wollte das nicht immer gelingen.
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