Wer in seinem Leben mal bei irgendeinem Arzt war, der weiß, wie nervig eine chaotische, undeutliche Handschrift sein kann. Man konzentriert sich zu sehr auf die Diagnose, der Doc schreibt indes seine Anweisungen in unleserlicher Keilschrift auf den Rezeptzettel und zack - am Ende kann man nur raten, ob man die Abführ-Tabletten jetzt ein, zwei oder hundertmal nehmen soll.
Die Essener Jungs und Mädels von Piranha Bytes produzieren das bildliche Gegenteil dieses Ärzte-Kauderwelschs. Ihre Spiele werden seit 20 Jahren mit einer absolut unverkennbaren und deutlichen Handschrift entwickelt, die Fans ohne Mühe aus 1.000 unterschiedlichen Spielmechaniken erkennen und herauslesen könnten: Rollenspiel, Open World, lakonischer Held, konkurrierende Fraktionen, haufenweise Drecksäcke, raue Dialoge, gefährliche Erkundungen, die anfangs meist mit einem Game Over enden.
Das gefällt nicht jedem. Wie beim Bethesda-Deal (also der "Gameplay-Formel" von Skyrim, Morrowind und Fallout) muss man die Eigenarten der Piranha-Bytes-Handschrift mögen, um damit Freude zu haben. Wer sich von ihrem neuen Spiel Elex eine komplette Abkehr von alten Tugenden und -Sünden aus Gothic (nur PC) oder Risen 1 & 2 erhofft, geht lieber Wildschweine jagen. Elex ist keine Revolution. Elex ist sperrig, grob, unintuitiv. Und das beste Rollenspiel, das Piranha Bytes seit langem auf die Beine gestellt hat!
Autos, Fidget Spinner und Weltuntergang
Statt mit einem neuen Gothic die alten Fans zu befriedigen, mixt Elex Fantasy mit Science Fiction und Postapokalypse - also quasi Mad Max mit Wikingern, Borg und Laser-Templern. Ein ambitionierter Mischmasch, der leicht das Ziel verfehlen könnte, aber in Elex tatsächlich wunderbar gelingt.
Die Welt Magalan ähnelt unserer eigenen, es gibt also Autos, Straßen, Mikrowellen, Massenvernichtungswaffen und wahrscheinlich auch Fidget Spinner. Plötzlich ballert ein riesiger Komet vom Himmel, der aus einem bisher unbekannten, bläulich-schwarzen Material besteht: Elex. Wie bei den Dinos vernichtet der Einschlag den Großteil der bisherigen Zivilisation.
Die Überlebenden merken schnell, dass man mit Elex so ziemlich alle Aspekte des Lebens verstärken kann: Maschinen, Waffen und sogar Menschen. Die verbleibende Welt zersplittert sich in drei große Fraktionen. Die Kleriker basteln sich aus Elex einen hochtechnisierten Kontroll-Staat, die Outlaws leben in der Wüste das Mad-Max-Paradies und die Berserker wandeln Elex in Mana um, um den Planeten aufs Neue zu befruchten.
Doch im Schatten dieser drei Mächte entsteht eine vierte Gewalt. Willensstarke Menschen konsumieren so viel Elex, das sie zu mächtigen, aber emotionslosen Kreaturen werden: den Albs, die skrupellos über die anderen Überlebenden herfallen. Tja, und unsere Spielfigur startet als Hauptmann dieser mörderischen Terroristen.
Der Held hat einen Namen
Ja, in Elex ist man mal wieder ein lakonischer Pragmatiker, der lieber anpackt, statt zu quasseln. Aber anders als in den geistigen Vorgängern hat der neue Held erstmals eine wirklich spannende Hintergrundgeschichte und (wie in Risen 3) auch einen Namen: Zu Beginn der Kampagne befinden wir uns als Alb-Commander Jax mit seinem Gleiter über dem Land Edan, werden plötzlich abgeschossen und von unseren eigenen Leuten zum Tode verurteilt. Wir überleben gerade so und werden in bester Piranha-Bytes-Tradition natürlich sofort ausgeraubt.
Mitten im Feindesland verlieren wir Ausrüstung, Fähigkeiten und Elex. Der Entzug von der Zaubersubstanz macht sich bemerkbar: Als einfacher Mensch beginnt Jax, wieder zu fühlen. Und was er mit diesen Empfindungen künftig anstellt, entscheiden wir.
20 Stunden für Akt 1!
Dass man einen Schurken spielt, finden wir super: Trotz unserer Entscheidungsfreiheit handelt es sich bei Jax nicht um eine Schablone, sondern um einen Charakter mit Vergangenheit, Persönlichkeit und Charisma. Was hat ihn zum Alb-Dasein getrieben? Und wieso wurde er verraten?
Die Hauptquest ist zwar nach wie vor nicht Piranha Bytes' große Stärke, weil man Charakterentwicklungen und Spannungsbögen wie in Dragon Age: Origins über lange Zeit mit der Lupe sucht. Aber sie weckt im zweiten Spieldrittel mit cleveren Ideen unsere Neugier. Dass der Hauptgeschichte ein wenig der Fokus fehlt, liegt allerdings auch daran, dass man als Spieler freie Hand hat, wann man was in welcher Form angeht. Nachdem man sich aus dem Wrack des eigenen Gleiters durch ein lineares Story-Tutorial gekämpft hat und die Grundlagen erlernt, öffnet sich das Abenteuer komplett.
Elex reagiert flexibel auf unseren ganz individuellen Weg: Treffen wir die verräterischen Albs erst nach 25 Spielstunden, dann fühlt sich das Ergebnis trotzdem nach einem stimmigen Erlebnis an. Gerade bei einem Rollenspiel kann sich so eine Freiheit sehen lassen, auch wenn der Preis dafür die dichte Dramaturgie ist.
So viel zu tun!
Die Kampagne von Elex ist ein Biest und genauso riesig wie die Spielwelt. Man kann locker 20 Stunden mit der bloßen Vorbereitung verbringen, sich einer der drei Fraktionen anzuschließen, um dadurch stark genug für die Alb-Vendetta zu werden. Die Größe von Magalan, spielerisch wie räumlich, übertrifft die früherer Piranha-Titel um Längen. Sie beschäftigt beim erstmaligen Durchspielen schon 60 bis 80 Stunden.
Elex hat zwei ganz große Stärken, in denen es anderen Rollenspielen die Show stiehlt: die Quests und die Spielwelt. Das zeigt sich beim Erkunden von Magalan. Es macht einfach unglaublich viel Spaß, jeden Stein in dieser gigantischen Spielwelt umzudrehen, weil hinter jeder Ecke Belohnungen, Quests, Charaktere, Hintergrundinfos, Kämpfe oder Panoramen auf uns warten.
Selten wurde eine postapokalyptische Ödnis so abwechslungsreich in Szene gesetzt. Klar, technisch hinkt Elex der Konkurrenz eines Mass Effect oder Fallout 4 hinterher, aber was dem Spiel an Grafikbombast fehlt, macht es durch Ideen wett.
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