Bound beginnt poetisch: Ein rotes Auto setzt uns im Körper einer hochschwangeren Frau an einer Küstenstraße ab. Gemächlich schlendern wir einen pittoresken Strand entlang, während sich der Sand zwischen unseren nackten Füßen teilt. Nicht weit entfernt platschen zwei Fischerboote aneinander, Möwen kreischen ihre Kreise in der verhangenen Wolkendecke über uns. Nach einigen Schritten bleibt unsere Spielfigur stehen, streichelt zärtlich ihren Bauch, setzt sich schließlich nieder und holt ein Notizbuch mit Kinderzeichnungen hervor. Denn diese Reise führt zurück in früheste Erinnerungen.
Schon finden wir uns in der eigentlichen Spielumgebung wieder. Es ist eine abstrakt anmutende Welt irgendwo zwischen Bauhaus und Surrealismus, die im krassen Gegensatz zum übersteigerten Realismus von zuvor steht. Eine prachtvolle Palette an gesättigten Farben breitet sich aus, um uns herum ist alles Geometrie: Wie die Wellen am Strand wabern Würfel und Pyramiden in einem aufgewühlten Meer hin und her. Die sich stetig verändernde Landschaft wirkt bedrohlich, instabil, nahezu gewalttätig auf unsere Sinne ein. Jetzt erst bemerken wir eine maskierte Ballerina, die wir mit katzenhafter Grazie durch dieses Labyrinth lotsen müssen. Geleitet werden wir von einer ominösen Königin, die uns liebevoll Prinzessin nennt und vor einem Monster warnt, das diese pulsierende Welt zu zerstören droht. Bound ist ein abstraktes Märchen, das seine Geschichte weniger mit Worten erzählt, als dass sie sich in Tanz und Musik offenbart.
Tanz mit dem inneren Teufel
Damit wären wir auch schon bei der wichtigsten Spielmechanik von Bound angelangt. Mit einem Knopfdruck springen wir mit ausgebreiteten Armen in die Luft, ein anderer lässt uns einen Kopfstand ausüben, worauf ein präziser Bogen mit anschließender Pirouette folgt. Selbst Gehen und Laufen sind einem Rhythmus unterworfen und wenn wir einen Moment die Finger vom Controller nehmen, verharrt unsere Ballerina nicht etwa tatenlos, sondern streckt sich oder beugt die Knie prompt per Plié.
Kampfmechaniken oder knifflige Bossgegner sucht man in Bound vergebens. Einzig und allein gewisse Hindernisse in der Umgebung wollen unser Fortkommen vereiteln. Um sie zu überwinden, fordern wir zum Tanz auf: Sobald wir genügend Tanzschritte aneinandergereiht haben, entstehen um unsere Ballerina bunte Flatterbänder, die als Schutzschild dienen und uns durch die Barrieren wortwörtlich hindurchtanzen lassen.
Die nymphenhafte Anmut, die unsere Protagonistin dabei zur Schau stellt, verdankt sich einer aufwändigen Choreographie, die mittels Motion-Capturing der professionellen Tänzerin Maria Udod entstanden ist. So geschmeidig die Animationen auch ineinander fließen, so begrenzt ist jedoch das Repertoire an möglichen Bewegungsabläufen. Schade ist außerdem, dass jeder Tanzschritt dieselbe Funktion erfüllt, weshalb Combos überflüssig sind, um etwa unterschiedliche Hindernisse jeweils mit bestimmten Choreographien zu überwinden. Wie in der ästhetischen Gestaltung setzt Bound auch im Gameplay eindeutig auf Minimalismus.
Das Anna-Karenina-Prinzip
Umso besser, dass Bound es versteht, durch gelegentliche Aufhebungen der Schwerkraft sowie Passagen, in denen wir jeweils zum Ende eines Levels ein langes Tuch entlang gleiten, etwas Abwechslung ins Spiel zu bringen. Gerade an diesen Stellen habe ich mich dabei ertappt, wie ich die Kamera wieder und wieder um sich selbst kreisen ließ, um begierig alle Nuancen einzufangen.
In Momenten wie diesen habe ich ausgiebigen Gebrauch vom integrierten Kamera-Modus gemacht, der mit zahlreichen Drehreglern und variablen Filtern ausgestattet ist. Da sich damit durchaus ansehnliche Ergebnisse erzielen lassen, ist es keine große Überraschung, dass der polnische Entwickler Plastic kürzlich einen Foto-Contest gestartet hat, um die schönsten Screenshots zu küren.
Nach jedem erfolgreich bestandenem Parkour bekommen wir eine Kindheitserinnerung präsentiert, bevor wir uns in der Realität der Schwangeren wiederfinden, die weiter den Strand entlang schreitet, einem hölzernen Strandhaus entgegen. Ohne viel vorweg zu nehmen, lässt sich sagen, dass hier eine sehr emotionale Geschichte erzählt wird, die uns zudem nur vignettenhaft präsentiert wird. Vieles müssen wir uns selbst dazu denken und so wird wohl jeder Spieler seine eigene Perspektive in die Interpretation einfließen lassen. Zusätzlich wird dies dadurch unterstrichen, dass Bound uns die Reihenfolge, in der wie die Level spielen wollen, frei wählen lässt.
Die hervorragende musikalische Gestaltung des Komponisten Oleg "Heinali" Shpudeiko tut ihr Übriges, um uns in eine melancholische und zugleich hoffnungsvolle Stimmung zu versetzen. Im Soundtrack trifft Klavier auf Synthesizer, die sich in prasselnden Arpeggios und den gelegentlichen disharmonischen Unterbrechungen ständig ebenso in Bewegung befinden wie die agile Spielfigur.
„Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich“, schreibt Leo Tolstoi im ersten Satz seines Romans Anna Karenina. Und ebenso, wie die Geschichte von Bound dem Spieler auf ihre eigene Weise eine Erklärung abnötigt, steht und fällt die Entscheidung, ob das Spiel euch gefallen könnte mit der Frage, ob eine stimmige Inszenierung und eine Story, die zum Nachdenken anregt, euch über Schwächen im Gameplay hinwegtrösten:
Denn während Bound in Sachen Präsentation, Geschichte und Atmosphäre vollends zu überzeugen weiß, plagen den Platformer andererseits eine unpräzise Steuerung, eine gelegentlich ungünstig platzierte statische Kamera sowie insgesamt die geringe spielerische Abwechslung. Wer jedoch Titel wie The Unfinished Swan oder das sehr vergleichbare Papo & Yo mochte, wird sicherlich auch mit Bound zwei bis drei äußerst bedeutsame Stunden verbringen. Wer danach noch nicht genug hat, kann im nun freigeschalteten Speedrun-Modus mit der Zeit um die Wette tanzen, was aufgrund der schwachen Plattform-Einlagen und dem narrativen Fokus des Spiels allerdings nur bedingt taugt.
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