Seite 4: Assassin's Creed Syndicate im Test - Wer hätte damit gerechnet?

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Brawler statt Killer

Ein weiterer entscheidender Fortschritt gelingt Syndicate beim Kampfsystem. Die Schlägereien sind deutlich faustlastiger als früher. Die Zeiten von Schwert und Degen gehören im wahrsten Sinne des Wortes der Vergangenheit an, Jacob und Evie kämpfen mit Schlagring, Gehstock und Kukri-Messer. Und auch hier haben sie von Batman gelernt. Jetzt gibt's nämlich einen Schlagzähler, diverse Kombinationen aus Gadgets, Betäubungs-Punch und normalen Angriffen. Tatsächlich brauche ich die auch - ähnlich wie in Unity sind Gegner häufig höher gelevelt als meine Figuren und stecken sehr viel ein.

Jacob und Evie gehen hingegen schon beim dritten Treffer zu Boden. Klar, es ist ein bisschen unlogisch, dass ich einem höherstufigen Feind gleich zehnmal die Kehle aufschlitzen muss, während er mich mit nur einem Schlag auf die Bretter schickt. Aber wenn man diese ungelenke Prämisse akzeptiert, hat man zum ersten Mal in der Serie ein Kampfsystem, das sich zu lernen lohnt. Und ich habe einen echten Grund zum Schleichen, denn in solchen Situationen ist es oft ratsamer, sich nicht erwischen zu lassen.

Auch beim Leisetreten lernt Ubisoft aus den Fehlern von Unity. Die automatische Deckung funktioniert besser, durch die präzisere Parkour-Steuerung sind komplexe Manöver problemlos möglich. Das Pfeifen kehrt als Anlockmöglichkeit zurück, ist aber nicht so übermächtig wie in Black Flag - meist hören mich mehr als ein einzelner Gegner und dann kriege ich schnell ein Problem. Werde ich entdeckt, werfe ich ein Messer direkt auf den Kopf des Spähers. Auch das ist angenehm ausbalanciert, weil ich sehr schnell zielen muss und Gegner recht prompt Verstärkung rufen.

Grandioses Missionsdesign

Der größte Coup gelingt Syndicate aber im Missionsdesign und in der Art und Weise, wie die Aufträge mit der Open World harmonieren. Die Hauptmissionen sind schlicht die besten, die es je in einem Assassin's Creed gab. Keine gleicht der anderen, jede spielt sich einzigartig. Mal infiltriere ich eine Irrenanstalt und gebe mich als Leichnam aus, um nah an den verrückten Doktor heranzukommen.

Dann jage ich ein Busdepot in die Luft, verfolge Jacobs nichtsnutzigen Assistenten anhand seiner Kotzespuren, suche für Charles Dickens ein Phantom, breche in eine Bank ein, erkunde das Herrenhaus von Edward Kenway und, und, und. Anders als in Unity ist jeder noch so kleine Auftrag mit Liebe fürs Detail inszeniert, bietet Dialoge und Charakter.

Wir können nahezu jede Kutsche im Spiel klauen. Die Rooks stellen uns aber auch eigene Fahrzeuge bereit. Wir können nahezu jede Kutsche im Spiel klauen. Die Rooks stellen uns aber auch eigene Fahrzeuge bereit.

Jacob und Evie kommentieren das Geschehen, als Spieler fühle ich mich wirklich involviert. Abseits der Missionen konzentriert man sich in freien Aktivitäten darauf, London zu erobern. Denn die ganze Karte ist zu Beginn des Spiels in der Hand der Templer-Gang - die Zwillinge müssen ihre eigene Bande gründen (die Rooks) und in knapp zwei Dutzend Vierteln »aufräumen«. Ich beseitige Anführer, töte Gang-Mitglieder, verbrenne Pläne, befreie Fabriken.

Die Rooks sind dabei anders als erwartet ein komplett optionales Spielelement. Gegen Geld und Rohstoffe kann ich die Bande im Menü aufleveln, schalte beispielsweise Schützen und Späher frei. Die spawnen dann überall auf der Karte und ich kann sie rekrutieren, um ein Templernest auszuheben oder Wachen abzulenken. Das funktioniert, ist aber weniger persönlich als die Crew-Mechaniken von Revelations, Brotherhood oder auch Assassin's Creed 3.

Die Mischung macht's

Darüber hinaus schaltet man allerlei Sandbox-Aktivitäten frei. Ich kann regelmäßig Züge überfallen, Schiffe ausräumen, Frachtkutschen klauen, Attentate verüben. Diese Aufgaben sind natürlich weniger spektakulär als die Hauptmissionen, sie sorgen aber dafür, dass das London von Syndicate einen immensen Flow erhält. Beim Testen habe ich teils eine Stunde lang in einer nie endenden Missionskette verbracht - hier eine Hauptmission beendet, dort in einen Bandenkrieg eingestiegen, dann einen Templer entführt, einen Zug ausgeräumt und zwischenzeitig auf dem Weg Kisten gesammelt und Aussichtspunkte erklommen.

Ich bin in einem einzigen Fluss aus spektakulären Manövern und tollen Erlebnissen, die direkt mit der Geschichte verwoben sind. Das ist die große Leistung von Assassin's Creed Syndicate. Klar, die Welt ist weniger ikonisch als der Attraktionspark Los Santos in GTA 5, weil Ubisoft einen realistischeren und gleichförmigeren Stadtansatz verfolgt.

Aber wo ich mich nicht an spezielle Orte erinnern kann, denke ich stattdessen an all die abgedrehten Stunts, die ich mit Jacob und Evie erlebt habe. Ähnlich wie in Black Flag sind alle Mechaniken so überarbeitet worden, dass sie möglichst viel Spaß machen und mich in London gefangen halten.

Natürlich kann man als Fan auch bei Syndicate viel meckern. Logiklöcher in der Geschichte erkennt man ohne Lupe, aufgrund der vielen optionalen Missionen findet kaum Charakterentwicklung statt, die ganzen Collectibles sind nach wie vor belangloses Ubisoft-Formel-Füllmaterial. Das sind berechtigte Einwände, und deshalb knackt das Spiel auch nicht die 90er-Wertung.

Aber an anderer Stelle ist Syndicate großartig: Ich kann als Spieler wirklich selbst entscheiden, welche Geschichte ich erzählen will. Stürze ich mich nur auf die Hauptgeschichte, entfaltet sich Syndicate als brutale Hatz nach den mächtigsten Schurken Englands. Nehme ich hingegen alle Nebenmissionen an, wird die Mission der Frye-Zwillinge zu einem gigantischen Feldzug. Alle Mechaniken greifen so gut ineinander, dass Spieler Dutzende Stunden damit verbringen können, sich die Zeit in London so einzuteilen, dass sie am meisten Spaß dabei haben. Und darum geht's bei einem guten Open-World-Spiel doch, oder nicht?

Assassins Creed Syndicate - DLC-Trailer mit Charles Darwin und Charles Dickens Video starten 1:20 Assassin's Creed Syndicate - DLC-Trailer mit Charles Darwin und Charles Dickens

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