Es gibt Momente, in denen man Anthem wirklich liebt. Wenn man die Düsen seines geliebten Javelins startet, elegant abhebt und mit einem Affenzahn durch eine wunderschöne Dschungelwelt fliegt. Oder wenn man im Kampf abwechselnd Blitze und Feuerbälle auf mächtige Titanen wirft, um ein spektakuläres Effektgewitter hervorzurufen.
Und es gibt Momente, in denen man Anthem hasst. Wenn einem eine Mission zum x-ten Mal dieselbe langweilige Sammelaufgabe aufdrückt. Wenn einen ebenso häufige wie quälend lange Ladezeiten immer wieder aus dem Spielgeschehen herausreißen. Oder wenn man während eines Bosskampfes plötzlich feststellen muss, dass ein fieser Bug die Wiederbelebungsmechanik ausgehebelt hat und das Geschehen dadurch unnötig erschwert.
Dabei passt das Grundgerüst von Anthem. Die Spielwelt beeindruckt mit ihrer Optik. Kämpfe und Flugeinlagen sind spaßig. Nur der Rest eben nicht. BioWare liefert einen Loot-Shooter voller Baustellen, patzt in Sachen Technik, Umfang und Missionsdesign. Sogar bei der Story enttäuschen die Dragon Age- und Mass Effect-Macher.
Eine Geschichte zum Vergessen
In Anthem schlüpfen wir in den High-Tech-Kampfanzug eines sogenannten Freelancers. Das sind Söldner, die sich auf einem fremden Planeten in die gefährlichen Dschungellandschaften außerhalb der geschützten Stadt Fort Tarsis wagen und ihre Bewohner vor allerhand Gefahren beschützen.
Feindselige Aliens sind hier allerdings unser geringstes Problem. Eine militaristische Gruppierung namens Dominion und deren Anführer "Der Monitor" drohen, unseren Heimatplaneten ins Chaos zu stürzen. Und wir müssen es verhindern. Daraus könnte sich eine spannende Geschichte spinnen. Das passiert aber nicht, weil Bioware sowohl bei der Handlung als auch bei den Charakteren so verdammt viel Potenzial verschwendet.
Hinter unserem Sidekick Owen oder unserer Gefährtin Faye stecken zwar durchaus sympathische Persönlichkeiten, im Laufe der Geschichte bleiben sie aber größtenteils blass. Wer nach Spielen wie Dragon Age: Inquisition auch in Anthem interessante charakterliche Entwicklungen oder komplexe Beziehungen erwartet, der wird hier bitter enttäuscht werden.
Im Laufe der rund 15 Stunden langen Kampagne wächst uns kein einziger NPC ans Herz, weil ihnen die nötige Tiefe fehlt. Die meisten Dialoge sind viel zu belanglos, als dass uns die Charaktere und ihr Schicksal jemals wichtig werden könnten.
Garniert wird die oberflächliche Story mit einem hanebüchenen Twist und einem dahergelaufenen Hauptantagonisten, der im gesamten Spiel ganze zwei Male auftritt und so niemals wirklich bedrohlich erscheint. Eine so lieblos dahin geklatschte Geschichte kannten wir von BioWare bislang nicht.
Die guten (englischen) Sprecher und die beeindruckend inszenierte Zwischensequenzen trösten über Anthems Story-Murks nicht hinweg, ebenso wenig das Spiel-Design. Genre-Konkurrent Destiny punktet immerhin als motivierender Loot-Shooter. Anthem gelingt hingegen nicht einmal das.
Javelins als Dreh- und Angelpunkt des Gameplays
Dabei hätte Bioware alle nötigen Werkzeuge für ein gutes Spiel auf der Hand. Sowohl die Flugmechanik als auch die Kampfmechanik funktionieren hervorragend. Dank der simplen Steuerung sausen wir schon nach kurzer Eingewöhnungszeit elegant durch die Lüfte. Bei drohender Überhitzung unserer Düsen preschen wir gekonnt durch Wasserfälle, stürzen uns kopfüber in den darunter gelegenen See und tauchen nahtlos weiter durch blau funkelnde Unterwassertunnel.
Und überhaupt gehört die Spielwelt von Anthem zu den schönsten, die wir je gesehen haben. Hoch oben bleibt uns bei Anblick der Panoramen die Spucke weg. Oft erwischen wir uns dabei, wie wir einfach in der Luft anhalten und schwebend die Aussicht genießen.
Worauf es bei Gefechten ankommt, haben wir ebenfalls schnell kapiert: Unsere Fähigkeiten spielen eine größere Rolle als unsere Schusswaffen. Jede der insgesamt vier Javelin-Klassen hat individuelle Tricks auf Lager, die unsere Kampftaktik bestimmen.
So schweben wir mit dem magier-artigen Storm meistens über unseren Feinden und heizen ihnen mit Elementarangriffen ein. Hinter dem Colossus steckt hingegen ein klassischer Tank, der mit Schild und Kanonen direkt an der Front mitmischt. Der Interceptor verlässt sich auf Nahkampfangriffe und tänzelt blitzschnell mit scharfen Klingen um seine Gegner herum. Der Ranger erweist sich als Allrounder, der mit Support-Fähigkeiten und Granaten sowohl in der Defensive als auch in der Offensive aushilft.
In der Schmiede in Fort Tarsis können wir unsere Javelins nach Herzenslust anpassen. Wir wählen Rüstungsteile aus, passen Farben an, bestimmen sogar den Materialtypen. Den Helm lieber aus Gummi oder Wolfram-Metal? Keine leichte Entscheidung.
Unsere Fähigkeiten weisen wir hier ebenfalls zu. Soll unser Storm feindliche Aliens lieber mit einem Blitz-Flächenangriff grillen oder sie doch lieber mit einem Eistrahl einfrieren? Bis wir unseren perfekten Javelin-Build gefunden haben, dauert's eine Weile. Schließlich müssen wir neue Skills erst einmal austesten und schauen, ob sie zu unserem Spielstil passen.
Doch Anthems Loot-System hat ein entscheidendes Problem.
Grundsätzlich macht das Tüfteln Spaß. Viel motivierender wäre es aber, wenn wir den Loot wie in Destiny oder The Division schon direkt im Spiel erhalten würden.
Denn genau das macht doch einen Loot-Shooter aus: Das Kribbeln in den Fingern, nachdem man neue Beute eingesackt hat. Das genüssliche Nachschauen, was sich denn dahinter verbergen könnte. Das sofortige Austesten der neuen Ausrüstung.
Anthem hingegen lässt uns unseren Loot erst im Endbildschirm nach einer Mission checken und schießt sich damit als Loot-Shooter ins eigene Knie.
Spaß im Koop, Frust im Singleplayer
Wer Anthem gemeinsam mit Freunden im Koop spielt, der wird am Kampfsystem definitiv die größte Freude haben. Wer wo wiederbelebt werden muss oder welche Attacke wann abgefeuert werden sollte, sprechen wir am besten via Voice-Chat ab und steigern so das Teamgefühl.
Gemeinsam mit unseren Koop-Kumpeln können wir unsere Moves nämlich zu verheerenden Kombos verketten. Etwa wenn ein Storm einen Widersacher zunächst mit seinem Eisstrahl einfriert und ein Colossus anschließend mit seinem Mörser auf ihn feuert.
Anthem kann auch solo gespielt werden, wirklich alleine sind wir aber nie. Wer keine Freunde zusammentrommelt, der bekommt in Missionen einfach drei fremde Mitspieler zugewiesen, und damit fällt natürlich die gemeinsame Absprache flach. Kombos passieren dann eher zufällig, indem alle Spieler einfach willkürlich ihre Attacken abfeuern.
Bei schwachen Standardfeinden kein Problem, bei stärkeren Elite-Gegnern kann's mit fremden Mitspielern aber brenzlig werden. Fehlende Zusammenarbeit kann hier schnell frustrieren. Insbesondere wenn wir egoistische Freelancer im Team haben, die unser virtuelles Ableben ignorieren und keinen Finger krumm machen, um uns wieder zurück in den Kampf zu holen.
Doch so sehr uns unsere spektakulären Javelin-Skills beeindrucken, so sehr enttäuschen uns die Schusswaffen. Wer effizient kämpft, benutzt Schrotflinte, Präzisionsgewehr und Co. ohnehin nur während der Abklingzeiten der viel mächtigeren Fähigkeiten. Denn Anthems Wummen können kaum mit Destiny oder The Division mithalten.
Das Gunplay fühlt sich unbefriedigend an, die Waffenauswahl lässt zu wünschen übrig. In einem Loot-Shooter wurmt nur wenig mehr, als nach einer Quest zum x-ten Mal dieselbe lahme Schnellfeuerpistole nur mit besseren Werten einzusacken. Zwar stehen unsere abwechslungsreichen Javelin-Spezialattacken im Mittelpunkt des Kampfsystems, die entschuldigen aber kein uninspiriertes Waffen-Design.
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