Lara Croft ist zur rechten Zeit am rechten Ort: Mitte der 1990er-Jahre ist Echtzeit-3D-Grafik der neue Trend in Videospielen. Ego-Shooter erobern PCs, die Playstation annektiert mit Polygon-Beat'em Ups wie Tekken und Rennspielen wie Wipeout das Wohnzimmer. Und Shigeru Miyamoto revolutioniert mit Super Mario 64 das klassische Hüpfspiel, indem er es in den dreidimensionalen Raum und damit die Spielewelt in staunende Begeisterung versetzt.
Auch die englischen Entwickler Core Design, die sich seit 1988 auf 16-Bit-Heimcomputer (Rick Dangerous, Axel's Magic Hammer) und die frühen CD-Systeme Amiga CD 32 und Mega-CD konzentrieren, setzen auf texturierte Polygone, um maximale Immersion zu erzeugen. Durch moderne 3D-Grafik wollen sie Abenteuer, wie man sie bislang nur von der Kinoleinwand kennt, spiel- und erlebbar machen.
Die Indiana Jones-Filme sind die wichtigste Inspirationsquelle für ein Action-Adventure, das ab 1993 konzeptioniert und ab dem Frühjahr 1995 von sechs Leuten entwickelt wird. Die ersten Helden-Entwürfe des Core-Grafikers Toby Gard orientieren sich allerdings ein bisschen zu sehr am Leinwandvorbild: Sein Chef Jeremy Heath-Smith lehnt einen Peitsche-tragenden Indy-Verschnitt ab, um Rechtsstreitigkeiten mit Hollywood vorzubeugen. Zum Glück, denn als nächstes ersinnt Gard einen Frauencharakter, der ab Ende 1996 als Lara Croft die Videospielwelt erobert.
Selbstbewusstes Sexsymbol
Gard entwickelt eine selbstbewusste, unabhängige Heldin mit südamerikanischen Vorfahren. Eine ungewollte Brustvergrößerung bei der Arbeit am Polygonmodell und der Geschäftssinn des Publishers Eidos Interactive machen Lara aber zu einer Engländerin adeliger Herkunft, die ebenso smart wie sexy ist. Die Eidos-Manager setzen schon früh auf die unverkennbaren Reize der jungen Archäologin, lassen verführerische Artworks produzieren und offizielle Lara-Modells kurzgeschürzt auf Messen und bei Foto-Shootings posieren.
Der Plan geht auf: Der Hype um Tomb Raider und seine Protagonistin ist schon zur Veröffentlichung des Debütspiels Ende 1996 gewaltig. Und er wird noch größer, als die Käufer feststellen, dass sie es hier wirklich mit einer ganz neuen Spielerfahrung zu tun haben.
Das erste Tomb Raider schickt Lara auf der Suche nach den Bruchstücken eines machtvollen Artefakts zu fünf geschichtsträchtigen Schauplätzen wie Ägypten oder Atlantis. Für die damalige Zeit sind die Levels ungewohnt weitläufig konstruiert und lassen viel Raum fürs Erkunden und Knobeln, Klettern und Springen, Ballern und Sterben. Der Spieler wird zum Forscher und Entdecker, der Geschick, Grips und Durchhaltevermögen braucht, um der aufwändig inszenierten Bildschirmwelt ihre Geheimnisse zu entlocken.
Der Erfolg des ersten Tomb Raider kommt überraschend für Core Design: Während die Chefetage noch überschlägt, wie viele tausend Einheiten man mindestens absetzen müsse, um Geld mit dem Spiel zu verdienen, ordert der Handel bereits ein Vielfaches. Letztlich summieren sich die Verkäufe von Laras erstem Abenteuer auf über sieben Millionen – das Gros davon wird auf der ersten PlayStation abgesetzt. Daneben erscheint das Spiel auch für PC und (für ein paar Wochen zeitexklusiv) für Segas glückloses Saturn-System.