Als ich mit 15 zum ersten Mal GTA: San Andreas spielte, öffnete sich mir eine ganz neue Welt. Bis dahin war mein Leben nämlich vergleichsweise harmlos verlaufen: Die einzige Attraktion in dem idyllischen Dörfchen meiner Kindheit stellte der örtliche Schützenverein dar und wohlbehütet vom Schutzwall der oberen Mittelschicht hatte ich überhaupt keinen Bezug zur Kriminalität. Einer Gang bin ich zwar schon früh beigetreten, allerdings bestand diese aus Grundschülerinnen und war auf das Nachspielen von Sailor Moon-Episoden spezialisiert.
Was ist "Mein Herz für Klassiker"?
In diesem wöchentlichen Format stellt euch die GamePro-Redaktion abwechselnd ein Spiel vor, das mindestens zehn Jahre ist und erklärt euch, warum es sich dabei aus unserer persönlichen Sicht (!) um einen Klassiker handelt. Mal ist es das Gameplay, das seiner Zeit voraus war, mal eine Story, die nie an Relevanz verloren hat oder einfach nur ein Spielelement, das uns nicht mehr aus dem Kopf geht.
In GTA: San Andreas sah ich mich dann plötzlich mit einer vollkommen konträren Lebensweise konfrontiert. Brutale Spiele waren mir zwar durchaus ein Begriff, doch keinem davon gelang es, mich so sehr zu beeinflussen – zumindest bis GTA Online kam. Schon nach wenigen Stunden in Los Santos ging mein Abenteuer weit über das bloße Steuern des Protagonisten CJ hinaus. Ich war er.
Das erste Erlebnis in einer offenen und derart immersiven Spielwelt war wegweisend für mich. Heute erwarte ich von Titeln aus dem Hause Rockstar, dass sie mich wochenlang an die Konsole fesseln und mir das Gefühl geben, tatsächlich an der jeweiligen Geschichte teilzuhaben. Vor GTA: San Andreas habe ich ein solches Spielgefühl aber nicht für möglich gehalten. Doch auch andere Aspekte sorgten dafür, dass der Sommer 2005 für mich ganz im Zeichen von Grand Theft Auto stand.
Willkommen in der Grove Street
Zum ersten Mal den Highway von Los Santos in Richtung des ländlichen Red County nehmen und dabei auf voller Lautstärke Radio X laufen lassen: Ich werde dieses Gefühl der Freiheit in San Andreas wohl nie vergessen. Langsam wurde mir bewusst, wie groß der fiktive Bundesstaat San Andreas wirklich ist. Als ich irgendwann das gesamte Gebiet erschlossen hatte, flog ich stundenlang mit dem Stuntflugzeug durch die gewaltige Spielwelt und erforschte jeden noch so kleinen Winkel. Es gab immer etwas zu entdecken.
Doch auch die Geschichte um den Kleinkriminellen Carl "CJ" Johnson faszinierte mich. Dieser lebt eigentlich in Liberty City, um sich von seiner kriminellen Vergangenheit zu distanzieren. Als seine Mutter 1992 ermordet wird, zieht es ihn jedoch zurück in die Grove Street, in der er sein Leben lang gewohnt hat. Und wie das so ist, wenn man Orte der Vergangenheit aufsucht, fällt auch CJ bald in alte Muster zurück.
Trotzdem war Carl für mich immer ein Gangster mit Sinn für Gerechtigkeit - und das, obwohl er in San Andreas ein ziemliches Massaker anrichtet. Zugleich ist er aber auch aufrichtig, kämpft für seine Ideale und glaubt fast schon naiv an seine Gang, die Grove Street Families. Diese sind in seiner Abwesenheit wegen Drogenproblemen und Streitigkeiten auseinander gebrochen. CJ versucht fortan, seine Hood vom Drogenhandel zu befreien. Ganz schön nobel für einen Verbrecher, oder?
All we had to do was follow the damn Train, CJ!
CJs Begleiter wussten mich ebenfalls zu unterhalten. Da ist etwa Big Smoke, der am Fastfood-Schalter über die Stränge schlägt ("I'll have two number 9s, a number 9 large, a number 6 with extra dip, a number 7, two number 45s, one with cheese, and a large soda.") und seine Menüs dann seelenruhig während eines Drive-by-Shootings verspeist.
Oder der überdrehte OG Loc, der als Putzkraft - pardon, "Hygiene Technician" - bei Burger Shot arbeitet und eigentlich von einer Hip-Hop-Karriere träumt. Diese beginnt er dann, indem er anderen Leuten Equipment und Texte klaut oder direkt den Manager des angesehenen Rappers Madd Dogg umbringt, während CJ hinter ihm aufräumen darf.
Auch, wenn im Laufe der Geschichte manch ein vermeintlicher Freund dann sein wahres Gesicht zeigte, schätze ich die vielseitigen Figuren. Und irgendwie passte der Verrat zur Grand Theft Auto-Reihe, die immer auch aufdecken und kritisieren will. Ich finde zwar, dass man nicht jede Entscheidung Rockstars mit Satire und Sozialkritik verteidigen kann, aber GTA: San Andreas hatte oft recht mit den Dingen, die es persiflierte und vorführte. Nicht zuletzt gab es mir außerdem einen Einblick in eine Kultur, zu der ich vorher keinen Zugang hatte.
Nuthin' but a 'G' Thang
Vor allem die vielen Hip-Hop-Bezüge in GTA: San Andreas sollten mich noch lange begleiten. Was früher mit dem spieleigenen Radio Los Santos und Playback FM seine zarten Anfänge fand, ist heute längst zu einer ausgewachsenen 90er-Hip-Hop-Obsession geworden. Der Soundtrack des Spiels ist in meinen Augen unerreicht und ich konnte Stunden damit verbringen, einfach nur mit dem gestohlenen Luxuswagen durch die digitale Stadt zu fahren und dem Radio zu lauschen. Die CD in meinem echten Auto orientiert sich noch heute an der Musik aus San Andreas.
Die musikalische Unterhaltung brauchte ich übrigens dringend, da ich teilweise auch Tage damit verbrachte, San Andreas nach Mythen und Easter Eggs abzusuchen. Lebt wirklich ein Big Foot im Wald? Wo kommt dieser grüne Nebel her? Und was hat es überhaupt mit diesem Hot Coffee auf sich?
Besonders die Liebe zum Detail, die etwa in den vielen Geheimnissen und Anspielungen zum Ausdruck kommt, schätze ich an GTA: San Andreas. Der Drang, jedes noch so kleine Detail über die Spielwelt in Erfahrung zu bringen, hielt mich dabei lange am Ball. Als ich San Andreas dann irgendwann wie meine Westentasche kannte und die Ballas endgültig in die Flucht geschlagen hatte, war die Zeit für ein neues Abenteuer gekommen. Und ich fühlte mich gut. Um es mal mit den Worten von Ice Cube zu sagen:
"Today I didn't even have to use my A.K. - I got to say it was a good day."
Dieser Artikel unserer ehemaligen Kollegin Finja erschien am 29. Dezember 2015 zuerst auf gamespilot.de und wurde für die Neuveröffentlichung leicht verändert.
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