Um Geld zu sparen, haben mein Freund und ich uns Grand Theft Auto 5 seinerzeit geteilt. Und da jeder von uns seine feste GTA-Zeit hatte, gab es in dieser Hinsicht überraschenderweise auch keine Konflikte. Zu Streitigkeiten kam es nur, wenn wir einander beim Spielen zusahen. Während ich nämlich gewissenhaft Missionen erledigte und mich eher friedfertig durch Los Santos bewegte, hatte er eine weniger pazifistische Herangehensweise und verbrachte Stunden damit, Passanten auf verschiedenste Arten und möglichst brutal ins Jenseits zu befördern.
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Mich trieb dieses fragwürdige Hobby langsam aber sicher in den Wahnsinn. Umgekehrt war mein Freund aber ebenso genervt von meinen Skrupeln, die mich mitunter sogar für die digitalen Fußgänger bremsen ließen. Das Überqueren roter Ampeln konnte ich allerdings mit meinem Gewissen vereinbaren - gerade noch so.
Versteht mich nicht falsch. Mir ist durchaus bewusst, dass Spielwelten wie die in GTA 5 zu solchen Aktionen einladen. Und dass eine Person GTA-NPCs gelegentlich mit dem Granatwerfer bearbeitet, sagt für mich nichts über deren Gewaltbereitschaft in der Realität aus. Dazu kommt der satirische, comicartige Stil in GTA 5, der Momente der Gewalt mitunter so stark überzeichnet, dass sie eher absurd als moralisch aufgeladen wirken.
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Außerdem stehen zwischen mir und dem Geschehen in Los Santos ja immer auch Trevor, Michael oder Franklin, die ich als Strohmänner vorschicken kann und die mir eine gewisse Distanz erlauben, solange ich in der Third-Person-Perspektive spiele. In GTA 5 und auch in anderen Spielen habe ich mich bisher aber dennoch immer an einen selbstauferlegten Ehrenkodex gehalten. Gegner werden von mir natürlich erledigt, aber unbeteiligte NPCs verschone ich - auch, wenn diese unverschämt werden. In Grand Theft Auto habe ich pöbelnde Passanten duldsam ignoriert. Wozu sonst gibt es denn die Polizei, die in Los Santos für Recht und Ordnung sorgt?
Zwar bin ich in GTA 5 in die Rollen dreier Krimineller geschlüpft, doch am Ende sah ich mich trotzdem selbstgefällig als Vertreter der Gerechtigkeit, immerhin waren meine Gegner zumeist noch schlimmere Ganoven als ich. Ihr könnt euch aber vielleicht vorstellen, dass meine eher pazifistische Einstellung mir vor allem in den Missionen mit Trevor Philips in die Quere kam.
Trotzdem fühlte ich mich in Trevors Story-Abschnitten ein bisschen wie der Robin Hood des White Trash. Ein soziopathischer Robin Hood mit Hygieneproblemen und einer üblen Crystal-Sucht vielleicht, aber immerhin ein Mann mit Sinn für Gerechtigkeit. Und ja, ich kann mir so einiges schönreden in der Welt von GTA 5. Als ich mein Abenteuer irgendwann beendet hatte, war mein Gewissen jedenfalls rein.
Viele Monate und zahlreiche andere Spiele später zog es mich dann zurück nach Los Santos. Und obwohl Online-Multiplayer eigentlich nicht meine Welt sind, registrierte ich mich aus unerfindlichen Gründen bei GTA Online. Vielleicht waren es Rockstars Versprechungen, die mich lockten. Von einer "lebendigen Welt" voller Persönlichkeiten war da die Rede. "Was du in dieser Welt machst, bleibt dir überlassen", beteuerte die freundlich klingende Frauenstimme in der Werbung. Und ich glaubte ihr.
Ich mache es kurz: Von der Entscheidungsfreiheit bekam ich nicht viel mit, da mein liebevoll gestalteter Avatar bereits nach einer Minute das Zeitliche segnete. Und so sollte es erstmal auch weitergehen.
Meine friedliebende und zugegeben etwas naive Art konnte ich auch in GTA Online nicht ablegen. Deshalb widmete ich mich erstmal der Suche nach einem geeigneten Wagen (und ja, den habe ich tatsächlich geklaut) und erkundete das nun viel lebendigere Los Santos. Auf der Karte entdeckte ich ein paar rote Punkte - andere Spieler! Erst später sollte ich herausfinden, dass die rote Farbe für eine besonders hohe Gewaltbereitschaft steht. Nichtsahnend näherte ich mich also dem Geschehen.
Ich begrüßte meine Mitspieler mit einem beherzten Hupen und hatte etwa eine Sekunde später eine Kugel im Kopf. Ein bisschen fühlte ich mich wie Paul McCartney, als dieser zum ersten Mal Destiny im Multiplayer spielte: Vollkommen überfordert und entrüstet von so viel Feindseligkeit. Doch im Gegensatz zu McCartney wollte ich nicht direkt aufgeben.
Meiner friedlichen Linie blieb ich vorerst übrigens treu. Ich winkte anderen Spielern zu, klingelte (erfolglos) an deren Apartments und ging Konflikten aus dem Weg. Ich konnte sogar damit leben, dass manch ein Spieler mich quer über die Map verfolgte und dabei beherzt mit Granaten abwarf.
Den Spaß an der Multiplayer-Erfahrung verlor ich irgendwann trotzdem. Denn nicht nur mein defensiver Spielstil machte mich zur Außenseiterin. Da ich ziemlich spät mit GTA Online angefangen habe, waren andere Spieler mir in der Regel weit voraus. An den meisten Missionen durfte ich zudem gar nicht erst teilnehmen, da mein Level zu niedrig war. Insgesamt fiel es mir schwer, Fortschritte zu machen und ich fühlte mich einem Leistungsdruck ausgesetzt, der mir die Freude an der Erfahrung nahm.
Ich stand also kurz davor, meine bescheidene GTA Online-Karriere an den Nagel zu hängen. Und dann sah ich einen Spieler, der sich noch unbeholfener anstellte als ich. Während ich mittlerweile ziemlich talentiert im Entkommen war, schienen Deckung und Flucht dem Fremden überhaupt kein Begriff zu sein. Und das wiederum weckte einen ganz eigentümlichen Drang in mir. Einen Moment noch zögerte ich, ehe ich meine Schrotflinte zückte und kurzen Prozess mit dem Armen machte. Eine seltsame Genugtuung erfüllte mich und die Konsole blieb vorerst an.
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Als sich wenig später wieder einmal ein angriffslustiger Spieler auf mich stürzte, rannte ich ausnahmsweise nicht weg, sondern stellte mich der Auseinandersetzung. Und tatsächlich sollte es mir gelingen, den Unruhestifter zu erledigen. Das wiederholte sich einige Male und irgendwann wies das Spiel mich darauf hin, dass der Randalierer jetzt mein Erzfeind sei. Für mich, die doch eigentlich immer so friedlich unterwegs war, war das eine ganz neue und umso spannendere Errungenschaft.
Von da an änderte sich mein digitaler Alltag in GTA Online. Ich fand Spaß an den chaotischen Straßenschlachten und verabschiedete mich von meiner freundlichen Zurückhaltung. War irgendwo ein Bandenkrieg zugange, dann stürzte ich mich selbstbewusst in das Geschehen und längst waren auch harmlose NPCs nicht mehr vor mir sicher.
Tatsächlich entdeckte ich GTA 5 nach all den Monaten noch mal neu und begriff, dass die absurde und chaotische Gewalt nicht nur konstitutiv für das Franchise ist, sondern auch ganz schön viel Spaß macht. Und dass mein Freund damals Stunden damit verbrachte, irgendwelchen unschuldigen Passanten nachzustellen, leuchtete mir auf einmal auch ein. Vermutlich bin ich heute sogar schlimmer als er, denn GTA Online hat meine dunkelste Seite hervorgebracht.
Dieser Artikel unserer ehemaligen Kollegin Finja Wallsdorf erschien zuerst am 26. Dezember 2015 auf gamespilot.de und wurde für die Neuveröffentlichung angepasst.
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