Wenn ihr mich vor zwei Wochen gefragt hättet: “Hannes, was war dein Spiel des Jahres 2022?”, dann hätte ich wohl God of War Ragnarok gesagt. Und Überraschung (!), das habe ich auch - in unserer GamePro-Liste über die Highlights des Jahres stand Kratos’ Götterdämmerung bei mir ganz weit oben. Nach 54 Stunden mit Chained Echoes, einem der wohl besten RPGs, die ich je gespielt habe, sähe meine Liste allerdings anders aus.
- Genre: JRPG
- Plattform: PS4, PS5, Xbox One, Xbox Series X|S, Switch, PC
- Entwickler: Matthias Linda
- Release: 8. Dezember 2022
Hinter Chained Echoes versteckt sich ein rundenbasiertes Pixel-RPG, das in jahrelanger Arbeit von einem Mini-Team erstellt wurde. Das Team ist sogar so klein, dass der deutsche Entwickler Matthias Linda beinahe das komplette Spiel im Alleingang produzierte und sich nur in bestimmten Bereichen wie dem Soundtrack Hilfe suchte.
Das große Ziel war klar: Chained Echoes soll ein JRPG im Stile der großen 16-Bit-Klassiker wie Final Fantasy 6 und Chrono Trigger werden und den Meisterwerken bestenfalls in Nichts nachstehen. Und das ist dem Spiel gelungen.
So groß wie die ganz Großen
Die geistige Nähe zu den Vertretern der ‘goldenen SNES-Ära’ trägt Chained Echoes stolz zur Schau. Die Geschichte rund um Söldner Glenn und Undercover-Prinzessin Lenne, die in die Strudel eines 150-jährigen Krieges auf dem Kontinent Valandis geraten, wird exakt so episch und emotional erzählt, wie ich die Storylines von einst in Erinnerung habe. Von politischen Intrigen, leichtherzigen Momenten, übernatürlichen Visionen und Konfrontationen mit magischen Überwesen - Chained Echoes hat alles, was mein JRPG-Herz verlangt. Inklusive Speicherkristalle, Luftschiffe und optionale Bossgegner.
Das Besondere an Chained Echoes ist aber, dass Linda nicht einfach nur eine Checkliste der besten JRPG-Klischees abhakt (wie es so viele nostalgische Projekte heutzutage machen), sondern auch viele neue Ideen mitbringt, die das Genre beflügeln. So kommt das rundenbasierte Kampfsystem beispielsweise komplett ohne Erfahrungspunkte und Levelaufstiege aus. Stattdessen wird der Charakterfortschritt über verteilbare Fähigkeitspunkte geregelt, für die ich mir neue Fertigkeiten, passive Boni oder Statusverbesserungen einkaufen darf.
Diese Fähigkeitspunkte gibt es aber nur nach dem Sieg über große Bosse - vorher einfach in den Grindmodus schalten und stundenlang aufleveln ist bei Chained Echoes also nicht drin.
Das fördert den taktischen Einschlag, denn wer in den knackigen Kämpfen bestehen will, braucht die richtigen Buffs, muss seine Feinde sinnvoll schwächen, die passende Ausrüstung wählen und die Strategie seiner Gegner verstehen. Ein positiver Nebeneffekt ist, dass in Chained Echoes keine Flut an Zufallskämpfen auf uns wartet. Standardkämpfe sind seltener, wohl platziert und bieten dafür eine größere Herausforderung.
Besser machen, statt einfach nur zu kopieren
Diese innovative Herangehensweise an die klassische JRPG-Formel erinnert an Stardew Valley. Auch hier hatte Alleinentwickler Eric “ConcernedApe” Barone den Plan, die einstige Faszination von Lebenssimulationen wie Harvest Moon zu beschwören, holte durch seine vielen Ergänzungen und Anpassungen aber gleich das ganze Genre wieder ins Leben zurück. Ich würde sogar so weit gehen, dass Stardew Valley der neue Goldstandard ist, wie eine gelungene Farming-Simulation à la Harvest Moon heutzutage auszusehen hat. Und Chained Echoes schafft dasselbe für die 2D-Final Fantasy-Formel.
Denn auch abseits der fehlenden Erfahrungspunkte werden neue Ideen eingebracht, die ich in anderen JRPGs nicht mehr missen möchte. Wie beispielsweise das uneingeschränkte Einwechseln von Partymitgliedern aus der Reserve, was jede Runde ganz ohne Aktionsverlust erlaubt ist.
Zudem lassen sich sogenannte Klassenwappen in Chained Echoes finden, die besondere Fähigkeiten freischalten. Ich entscheide, wer das Wappen erhält und kann das Wappen im Anschluss sogar weiterreichen, denn “gemeisterte” Fähigkeiten bleiben auch ohne angelegtes Wappen verfügbar.
Mit den Himmelsrüstungen bekommen Chained Echoes-Spieler Zugriff auf ein zweites Kampfsystem, das die Partymitglieder in Mechs steckt, die wir mit Ausrüstung und Skins individualisieren können. Sogar in der Erkundung der Spielwelt kommen die Himmelsrüstungen zum Einsatz und wir können plötzlich Abgründe überfliegen, die vorher unüberwindbar schienen.
Eine neue Art an JRPG-Kämpfen
Die vielleicht spannendste Neuerung ist aber die Overdrive-Mechanik. Jede unserer Attacken in Chained Echoes bewegt einen Marker auf der Overdrive-Leiste - entweder nach rechts oder links. Um so effizient wie möglich zu sein, müssen wir unser Overdrive in der Mitte halten, denn nur so gibt es Boni auf Angriff und Verteidigung. Rutscht unser Overdrive-Marker in den roten Bereich gibt es hingegen einen Malus - und das hat weitreichende Konsequenzen darauf, wie über Strategien nachgedacht wird.
Einfach nur die jeweils stärksten Attacken zu spammen, funktioniert dadurch nicht mehr. Das würde den Overdrive-Marker innerhalb weniger Aktionen in den gefährlichen Bereich rutschen lassen. Stattdessen muss das Portfolio an Angriffen, Zaubern und Buffs voll ausgeschöpft werden, um das Gleichgewicht zu halten.
Diese zusätzliche Taktik-Ebene ändert grundsätzlich die Art und Weise, wie ich mich in JRPG-Kämpfen verhalte. Chained Echoes hat mein Verhältnis zu JRPGs im Kern verändert und mir neue Aspekte in einem Genre offeriert, bei dem ich dachte, dass ich es “in- und auswendig” kenne.
Ich kann selbstbewusst sagen, wäre Chained Echoes (technisch angepasst an das SNES) bereits in den 1990er Jahren erschienen, würden wir Lindas RPG-Abenteuer im selben Atemzug nennen wie Final Fantasy 6, Chrono Trigger und Co. Und das ist eine beeindruckende Leistung.
Die dickste Empfehlung, die ich nur geben kann
Klar, auch ein Chained Echoes ist nicht perfekt. Die deutsche Übersetzung ist voll mit kleinen Fehlern und den richtigen Ton trifft sie ebenfalls nicht immer. Das gilt für die englischen Dialoge übrigens ebenso. Zudem ist nicht jede Spielmechanik sinnvoll integriert - das Finden, Verschmelzen und Einbinden von Kristallen in unsere Ausrüstung ist unnötig kompliziert und wird allein dadurch schon fast irrelevant, da wir viel zu schnell bereits wieder das nächstbeste Schwert oder den nächstbesten Kürass ausrüsten.
Das Gesamtpaket ist aber zweifellos eines der besten Rollenspiele, die mir je untergekommen sind. Sowohl in Sachen Präsentation, die wunderschöne Hintergründe mit extrem detaillierten Charaktermodellen (vor allem bei den vielen Bossgegnern) kombiniert, als auch hinsichtlich des Umfangs hat Chained Echoes viel zu bieten. Optionale Partymitglieder, geheime Dungeons, ultimative Waffen, Jagden auf einzigartige Monster und sogar das Aufbauen einer eigenen Basis - neben der Storykampagne wird RPG-Fans auf keinen Fall langweilig.
Chained Echoes ist längst kein Geheimtipp mehr und wer ein Faible für JRPGs hat, wird sicher bereits darauf gestoßen sein. Aber auch allen anderen, die bisher keinen Zugang zum Genre gefunden haben, lege ich dieses Spiel ans Herz. Wenn es ein JRPG geben sollte, das euer Interesse weckt, dann wird es wohl Chained Echoes sein.
Nur angemeldete Benutzer können kommentieren und bewerten.
Dein Kommentar wurde nicht gespeichert. Dies kann folgende Ursachen haben:
1. Der Kommentar ist länger als 4000 Zeichen.
2. Du hast versucht, einen Kommentar innerhalb der 10-Sekunden-Schreibsperre zu senden.
3. Dein Kommentar wurde als Spam identifiziert. Bitte beachte unsere Richtlinien zum Erstellen von Kommentaren.
4. Du verfügst nicht über die nötigen Schreibrechte bzw. wurdest gebannt.
Bei Fragen oder Problemen nutze bitte das Kontakt-Formular.
Nur angemeldete Benutzer können kommentieren und bewerten.
Nur angemeldete Plus-Mitglieder können Plus-Inhalte kommentieren und bewerten.