Auf den ersten Blick ist The Town of Light ein Walking Simulator, der sich von vergleichbaren Titeln wie What Remains of Edith Finch oder Gone Home kaum unterscheidet: Wir bewegen uns etwa drei Stunden lang in der Ego-Perspektive durch leerstehende Hausruinen und interagieren dort mit dutzenden Objekten, die uns mehr über unseren Aufenthaltsort verraten. Rätsel und andere Gameplay-Herausforderungen suchen wir vergeblich.
Doch unter dieser so beliebig erscheinenden Oberfläche stoßen wir auf ein Spiel, das uns zutiefst verstört und beschäftigt hat - auch wenn es hier und da mit einigen Problemen kämpft.
Eine wahre Geschichte
Im Gegensatz zu vielen seiner Genre-Geschwister nimmt The Town of Light explizit Bezug auf ein historisches Kapitel der neueren Geschichte: Die Zeit der sogenannten Nervenheilanstalten, in die Menschen mit psychischen Krankheiten von besorgten Nahestehenden oder der Staatsgewalt abgeladen wurden, damit die "Patienten" dort behandelt werden konnten. Statt beispielsweise therapeutischer Gespräche, wie wir sie von modernen Behandlungsmethoden kennen, warteten auf die Neuankömmlinge aber unmenschliche Zustände und Versuchsreihen mit Elektroschocks oder anderen »Behandlungsmethoden«, die teilweise sogar die Definition von Folter erfüllen.
Nicht zuletzt wissen wir heutzutage so genau von den Zuständen in diesen Anstalten, weil das Personal vor Ort akribisch dokumentierte und archivierte, welche Patienten wie und wie lange behandelt wurden - und aus genau solchen Unterlagen zieht The Town of Light die Inspiration für eine spielbare Geschichte, wie sie vor gerade mal hundert Jahren durchaus noch möglich gewesen wäre.
Triggerwarnung
In diesem Spiel kommt es immer wieder zu Szenen, in denen der Spieler in der Haut der Protagonistin unter anderem Opfer von sexueller Gewalt, traumatischen Angstzuständen oder depressiven Episoden wird. Wir empfehlen im Zweifel einen Blick in ein Let's Play oder Gameplay-Video, damit ihr euch vor dem Kauf zumindest ein grobes Bild davon machen könnt, ob The Town of Light für euch als Spielerfahrung in Frage kommt.
The Town of Light spielt nahe dem italienischen Städtchen Volterra und lässt uns in die Haut der jungen Frau René schlüpfen, deren traumatische Vergangenheit fest mit diesem so idyllisch erscheinenden Ort verbunden ist. Zu Spielbeginn ahnen wir von dieser dunklen Vorgeschichte noch nichts, sondern wandern im Volterra der Gegenwart durch eine herbstgoldene Landschaft und stoßen erst nach einigen Metern auf einem erhöhten Bergplateu auf ein Anwesen, das sich bedrohlich aus der italienischen Urlaubslandschaft schält: Die berüchtigte, örtliche Nervenheilanstalt, "der Ort ohne Wiederkehr", wie die Anlage lange Jahre von den Bewohnern der umliegenden Dörfer auch genannt wurde - denn diese Anstalt, wie wir sie im Spiel sehen, gab es wirklich einmal.
In den 1940er-Jahren befanden sich hier teilweise bis zu 6.000 Patienten mit mentalen Krankheiten unterschiedlichster Art und Ausprägung in "Behandlung". Sie lebten auf engstem Raum miteinander und wurden tagtäglich seelisch oder körperlich misshandelt, jede Flucht wurde von dem aufmerksamen Personal verhindert und hart bestraft. 1978 wurde die Anstalt schließlich geschlossen - wegen "zu grausamer Behandlungsmethoden". Auch unsere Protagonistin René war eine dieser Patienten und kehrt nun an diesen Ort zurück, um mit ihrer Vergangenheit abzuschließen.
Bitte zuhören!
Angeleitet von René, die hin und wieder mit sich selbst spricht, bewegen wir uns durch die heruntergekommene Anstalt, halten Ausschau nach Fotografien, Dokumenten und anderen Hinterlassenschaften früherer Bewohner, um dann auf Knopfdruck in einer Rückblende einzelne Erinnerungen der jungen Frau nachzuspielen. Die sind oftmals verstörend und versetzen uns in überaus unangenehme Situationen, aus denen wir nicht entkommen können. Dabei kennt das Spiel kaum Zurückhaltung und belässt es beispielsweise nicht dabei, uns zu erzählen, wie sie von einem Wärter sexuell belästigt wurde - sondern zwingt uns dazu, diese Szenen wirklich noch einmal nachzuspielen. Spätestens jetzt wird uns klar, warum The Town of Light im Vorspann vor "Adult Content", also Inhalten nur für Erwachsene warnt.
Dabei haben wir allerdings nie das Gefühl, das es hier um das bloße Schockieren geht. Stattdessen erhalten wir immer den nötigen Kontext, um zu verstehen, warum es jetzt wichtig ist, René bei dieser Erinnerung beizustehen, mit der sie das Vergangene endlich verarbeiten will.
Ein wenig Probleme hat uns allerdings die Erzählweise der Hauptgeschichte bereitet: René erzählt teilweise sehr unzusammenhängend von den Erlebnissen in ihrer Vergangenheit. So ist manchmal nicht klar, ob diese Verwirrung an ihrer Überforderung liegt, mit dem hochkommenden Erinnerungen fertig zu werden, oder an der nachlässigen Arbeit der Autoren des Entwicklerteams. Wer hier nicht über die komplette Dauer der rund drei Spielstunden ganz genau hinhört, verliert schnell die Übersicht über die Geschichte.
Ein überraschendes Ende
Keine Sorge, wir spoilern an dieser Stelle nicht, wie das Spiel endet, sondern wollen stattdessen betonen, wie individuell jeder Spieldurchlauf gestaltet werden kann. Während Renés düsterem Spaziergang durch die ehemalige Anstalt stoßen wir auch immer wieder auf alte Krankenakten der jungen Frau, die sie vor löchernde Fragen stellt: Sollte ich weiterlesen? War damals wirklich alles so, wie es in diesen Akten steht? Oder haben die Ärzte absichtlich etwas falsches notiert?
Über verschiedene Antwortmöglichkeiten können wir sie nun bekräftigen oder zum Zweifeln bringen, und damit kleine Details des Story-Verlaufs verändern. Einen kompletten Richtungswechsel des Spiels erzwingen wir damit zwar nicht, aber der Weg bis zum Abspann wird so zumindest im Detail von uns geformt. Wir schalten auf diese Weise bestimmte, zusätzliche Zwischensequenzen frei, die noch mehr von Renés Vergangenheit enthüllen. Wirklich hinter sich lassen wird René die Erinnerungen an die Anstalt von Volterra allerdings wohl nie - und auch uns haben die Szenen, die wir dort erleben mussten, noch einige Tage lang beschäftigt.
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