Atmosphärisch und eindringlich
Verstärkt wird das Survival-Feeling von der brachialen Soundkulisse und der realistischen Mimik der Charaktere: Fensterscheiben zerspringen und klirren ohrenbetäubend, wenn Projektile einschlagen. Schüsse klingen so laut und durchschlagend, dass ich wie Ellie jedes Mal zusammenzucken muss, wenn eine Kugel an ihren Ohren, an meinen Ohren, vorbei schlägt.
Wird Ellie selbst getroffen, dann verzieht sie vor Schmerz das Gesicht. Wenn sie sich stöhnend und mit zusammengekniffenen Augen einen Pfeil aus der Schulter zieht, dann kann ich das kaum mit ansehen. Das reißende Geräusch, wenn der Pfeil ihr Fleisch verlässt und eine Blutfontäne nach sich zieht, ist nahezu unerträglich in seinem schonungslosen Realismus.
In diesen Momenten wirkt Ellie fast schon erschreckend menschlich und verletzlich, weil sie anders als Chloe Frazer oder Nathan Drake Verletzungen nicht einfach so wegsteckt.
Dieses eigentlich kleine Detail sorgt dafür, dass ich mich noch verbundener mit Ellie und ihrem Schicksal fühle. Dass ich sie unbedingt vor den Gefahren ihrer Welt beschützen möchte, während sie mich immer tiefer in die grausame und gnadenlose Postapokalypse hineinziehen. In der Sicherheit meines Wohnzimmers wehre ich mich so hartnäckig und verbissen gegen Clicker, Sektenanhänger und WLF-Soldaten, als befände ich mich selbst in Gefahr.
Durch diese Verbundenheit baut das Spiel ein konstantes Gefühl von Bedrohung auf - und führt mir dabei gleichzeitig stetig vor Augen, dass ich nicht etwa eine perfekte, idealistische Heldin mit weißer Weste spiele, sondern in der Haut einer kompromisslosen Kämpferin stecke, die sich auf einem Rachefeldzug befindet und deshalb selbst vor keiner Gräueltat zurückschreckt. Ihre weit aufgerissenen Augen im hasserfüllten Gesichtsausdruck bei einem Stealth-Kill verdeutlichen das erschreckend.
Wenn Ellie einem Sekten-Schläger energisch die Machete in den Hals jagt, spritzt nicht nur Blut. Jedes Mal blicke ich in die Augen meines Opfers, dem Angst und Leid ins Gesicht geschrieben stehen. Die meisten Kills wirken schmutzig und persönlich und verdeutlichen, dass Gewalt in der postapokalyptischen Welt von The Last of Us 2 allgegenwärtig und unausweichlich ist. Damit spielt Naughty Dog nicht ohne Grund.
Ein Kommentar auf Gewalt
Denn The Last of Us 2 soll ein Kommentar auf Gewalt sein. Das kündigte Director Neil Druckmann bereits zur E3 2018 an. Allerdings fiel es mir - ebenso wie vielen anderen - damals schwer, mir irgendetwas darunter vorzustellen. Schlicht, weil sämtliche Trailer das brutale Vorgehen der Charaktere aus dem erzählerischen Kontext reißen und die Brutalität dadurch eher plump und geschmacklos wirkt.
Das fertige Spiel zeichnet aber ein ganz anderes Bild: Es gelingt The Last of Us 2 tatsächlich, meine Wahrnehmung von Gewalt herauszufordern und mich mein eigenes spielerisches Handeln hinterfragen zu lassen. Und das geht weit über spritzendes Blut und die leidenden Gesichtsausdrücke meiner virtuellen Opfer hinaus. Das Problem ist, dass ich euch aus verschiedenen Gründen nicht sagen kann, warum das so ist.
Ich möchte an dieser Stelle komplett transparent mit euch sein: Über viele der wichtigsten, entscheidendsten und prägendsten Momente, die die Erfahrung von The Last of Us: Part 2 ausmachen, kann und darf ich zu diesem Zeitpunkt nicht mit euch reden. Das verbietet einmal das NDA von Sony zu diesem Test, das untersagt, aus Spoiler-Gründen über entscheidende Abschnitte des Abenteuers zu sprechen. Fast noch wichtiger ist es aber, dass jede Beschreibung der entsprechenden Stellen verhindern würde, dass ihr bestimmte Ereignisse, Entwicklungen und Wendungen mit ihrer vollen Wirkung selbst erlebt.
Und das ist ausschlaggebend dafür, wenn ihr tatsächlich verstehen wollt, was genau The Last of Us: Part 2 so besonders macht. Warum ich der Überzeugung bin, dass es ein neuer Meilenstein für Storytelling in Triple-A-Games ist, der sogar den damals gefeierten ersten Teil im postapokalyptischen Staub zurücklässt.
Diese Einschränkung (meinerseits und seitens Sonys) macht es allerdings wirklich schwer, zu vermitteln, wie und warum sich das Action-Adventure von so vielen anderen Action-Blockbustern abhebt und nicht einfach nur der Nachfolger eines sehr guten und beliebten Spiels ist. Warum Gewalt, anders als beispielsweise in GTA 5, hier nicht nur für die reine Unterhaltung eingesetzt wird, sondern tatsächlich einen tieferen Sinn hat, den wir hinterfragen sollen.
So viel kann ich schließlich sagen: Im Laufe des Abenteuers erreiche ich eine Stelle, die mich komplett überrascht. Die mich mit einer derartigen Härte überrumpelt, dass mir tatsächlich der Atem stockt, ich den Controller erst einmal weglegen und das Fenster weit aufreißen muss. Dass ich physischen Abstand vom Spiel suchen muss, um weitermachen zu können.
Ab dieser einen Stelle bricht Naughty Dog komplett mit meiner Erwartungshaltung und rückt die gesamte Geschichte plötzlich in ein anderes Licht. The Last of Us 2 hält mir Schlag auf Schlag Ellies brutales Handeln - und damit mein eigenes brutales Handeln - wie einen Spiegel vor Augen. Haut es mir jedes Mal so kräftig ins Gesicht, dass mir tatsächlich die Tränen kommen. Gerade in der zweiten Hälfte wird das Spiel an vielen Stellen nahezu unerträglich grausam.
Das ist aber gleichzeitig notwendig, um eine wichtige Botschaft zu vermitteln: Gewalt ist ein Teufelskreis, der nur zu noch mehr Gewalt und damit zu unendlichem Leid führt.
Frontalangriff aufs Gewissen
Für mich wird The Last of Us 2 gerade deshalb zu einem sehr intimen Erlebnis, weil ich nicht nur Ellies Kämpfe kämpfe, sondern im Laufe meiner Reise auch immer mehr mit mir selbst ringe.
Das Spiel zwingt mich dazu, Gewalt auch dann auszuüben, wenn ich es gar nicht mehr will. Wenn ich die Quintessenz der Botschaft schon längst verstanden habe und sie einfach nur hinter mir lassen möchte. Große Entscheidungsfreiheit wie beispielsweise in Metal Gear Solid 3 habe ich hier nämlich nicht. Ich kann nicht mal eben den pazifistischen Weg einschlagen und das Spiel gewaltfrei beenden.
Für den Rest des Abenteuers muss ich in bestimmten Momenten entgegen meines eigenen Wunsches trotzdem zur Waffe greifen, trotzdem die Faust heben, trotzdem das Messer zücken, weil des die Geschichte von mir verlangt. Das Spiel zwingt mich dazu, und stürzt mich damit in ein regelrechtes Gefühlschaos.
Ich soll in einer interaktiven Zwischensequenz auf die Schlagtaste drücken, mit der Eisenstange auf ein hilfloses Opfer eindreschen. Dabei wird nur Ellies hasserfülltes Gesicht mit bebenden Lippen eingeblendet. Doch ich höre das Wimmern des Opfers, will nicht zuschlagen, hoffe, dass ich durch genug Warten die Sequenz in eine andere Richtung laufen lasse. Aber nein, es gibt nur den Weg der blutigen Rache.
Plötzlich entwickle ich Abscheu vor den Dingen, die ich tun muss, um die Story weiter voran zu bringen. Es gibt Momente, in denen ich das gar nicht mehr möchte. In denen ich fast versucht bin, das Spiel unbeendet zu lassen, um das alles nicht weiter durchleben zu müssen. Doch die Frage, wie diese fesselnde, genial erzählte Geschichte mit ihren furchtbar spannenden Charakteren verdammt nochmal ausgehen soll, treibt mich schließlich weiter.
Und hier liegt vielleicht sogar die Krux und das, was das neueste Spiel von Naughty Dog so besonders macht: Rein objektiv betrachtet, bleibt das Gameplay von The Last of Us 2 bis zum Schluss spaßig. Kampf- und Stealth-Abschnitte verlieren niemals an Spannung und Aufregung. Nur fällt es mir ab einem gewissen Punkt schwer, Freude daran zu empfinden, weil der Schatten der Gewalt über allem hängt und mich schon längst aufgefressen hat.
Das ist allerdings keine Schwäche des Spiels, sondern eine seiner großen Stärken. Naughty Dog spielt bewusst mit abscheulichen Momenten, oder eher: Lässt sie mich selbst spielen, um die Kehrseite von Ellies blutigem Rachetrip aufzuzeigen. Und das lässt mich nicht nur die Story intensiver erleben, sondern auch ihre Aussage eines "Kommentars auf Gewalt" umso deutlicher verstehen.
Feinde mit dem Baseballschläger den Schädel zertrümmern, oder sie mit der blanken Faust grün und blau prügeln - all das ist in den meisten anderen AAA-Action-Spielen nahezu belanglos und daher furchtbar unterhaltsam. Indem The Last of Us 2 den Spaß nach einer Weile bewusst entfernt und mich dann mit Gewalt und ihren unumkehrbaren Folgen konfrontiert, fühle ich mich nach all meinen Gräueltaten wie das schlimmste Arschloch, wegen dem jetzt die Schicksale meiner geliebten Charaktere auf dem Spiel stehen.
Eine Interpretation des Endes von The Last of Us 2 findet ihr in einem separaten Artikel.
Warum wir so eine hohe Wertung geben
Wenn ihr schon zum Wertungskasten vorgeskippt habt, wisst ihr (oder wisst es eben jetzt), dass The Last of Us 2 eine 97 von uns bekommt. Und das, obwohl Naughty Dogs Spiel nicht von Anfang bis Ende reinen, ungezügelten Spielspaß verspricht wie ein GTA 5, das im GamePro-Test ebenfalls eine 97 erhalten hat.
The Last of Us 2 erhält trotzdem diese hohe Wertung, weil die sehr mutige Art, Storytelling und Gameplay so miteinander zu verweben, im gesamten Blockbuster-Bereich einzigartig und neu ist.
Die gesamte Struktur des Abenteuers und das clevere Spiel mit Perspektiven gab es so in keinem anderen AAA-Spiel zuvor und ist damit wegweisend für zukünftige Singleplayer-Blockbuster mit Story-Fokus. Naughty Dog hat ein Meisterwerk erschaffen, das nicht nur diese Konsolengeneration feierlich verabschiedet, sondern jahrelang für Diskussionsstoff sorgen wird.
Alles lieber in Videoform? Hier ist unser Test-Video zu The Last of Us 2:
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