In The Chant wird Jess von einem der schrecklichsten Monster, die man sich überhaupt vorstellen kann, verfolgt: ihrem schlechten Gewissen. Durch einen Unfall ist ihre jüngere Schwester ertrunken, und hätten sie und ihre Freundin Kim nur besser aufgepasst, wäre das nicht passiert. Wenig überraschend haben sich beide seitdem auseinander gelebt. Nicht zuletzt, weil Kim sich einer spirituellen Selbsthilfegruppe zugewandt hat, die verdächtige Züge einer Sekte hat.
Trotzdem nimmt Jess die Einladung von Kim an, für ein paar Tage auf eine abgelegene Insel zu kommen, um mit der Gruppe zu meditieren und die Vergangenheit aufzuarbeiten. Allerdings nicht auf die Art, die Jess sich vorgestellt hatte: Ein Ritual geht schief und weckt kosmische Mächte. Diese lassen Grenzen zwischen Realität und Wahnsinn verschwimmen, mitsamt merkwürdiger Kreaturen und traumatischen Erinnerungen. Jess muss nicht nur die Nacht überleben und Kim retten, sondern sich auch ihren eigenen Schuldgefühlen stellen, die ihr von den Mächten wie ein Spiegel vorgehalten werden.
Survival Horror der (beinahe) alten Schule
Erinnert euch der Plot ein wenig an Psychohorror-Klassiker wie Silent Hill? Das kommt nicht von ungefähr, denn The Chant richtet sich vollumfänglich genau an dieses Zielpublikum. Die Bestandteile lesen sich fast wie auf einer Wunschliste für Genre-Fans: In Kämpfen ist Jess nicht übermächtig und kann durch wenige Treffer sterben. Sie verbringt mehr Zeit damit, die Insel zu erforschen und Rätsel zu knacken, deren Lösung nicht sofort ersichtlich ist. An einer Stelle muss Jess zum Beispiel eine Säuremischung zusammenstellen, aber die Zutaten sind in der Anleitung hinter kryptischen Symbolen versteckt.
Dokumente sind ein gutes Stichwort, denn in allerbester After-The-Facts-Manier sind Briefe, Akten oder Tagebucheinträge überall zu finden. Aus ihnen kann man sich die Vergangenheit der Insel zusammenreimen, damit die aktuellen Geschehnisse mehr Kontext bekommen.
Bosskämpfe gegen überdimensionale Gestalten runden das Gesamtbild ab. Was zum vollkommenen Silent-Hill-Feeling noch gefehlt hätte, sind feste Kamerawinkel, wie es zuletzt Tormented Souls oder Alisa getan haben. The Chant setzt hingegen auf eine 3rd-Person-Kamera, womit sich das Spiel eher an Genrevertretern wie Silent Hill: Homecoming orientiert. Daran hat uns das Spielgefühl auch am meisten erinnert.
Trotzdem macht The Chant viele Dinge anders, womit es sich wohltuend vom Survival-Horror-Einerlei abhebt. Bemerkenswert ist hier das Kampfsystem: Es konzentriert sich beinahe vollständig auf Hiebwaffen, die dem spirituellen Thema angepasst sind. Jess muss in einem überschaubaren Crafting-System Rohstoffe aus der Natur sammeln, um daraus zum Beispiel eine Salbeifackel zu basteln. Feuer spielt eine große Rolle, denn zusätzlich lässt sich flammendes Öl einsetzen. Damit bewirft Jess ihre Gegner, um sie in Brand zu setzen. Alternativ kann sie es auch als Falle auf dem Boden auslegen.
Salz kann sie ebenso werfen, was Gegner für einen kurzen Moment irritiert. Genretypisch ist Ressourcenknappheit ein ständiger Begleiter, der hier sogar den Verstand von Jess betrifft: Ist sie zu lange schrecklichen Bildern oder der Aura bestimmter Wesen ausgesetzt, sinkt ihre geistige Gesundheit, die als zusätzlicher Balken neben der physischen Verfassung dargestellt wird. Sinkt sie auf Null, kann Jess nicht mehr kämpfen und muss sich zur Erholung in Sicherheit bringen.
Neben Ressourcen aus der Umgebung kann der geistige Zustand durch Meditation verbessert werden. Meditieren kann Jess überall außerhalb von Gefahrensituationen, doch das kostet spirituelle Energie, die auch für Spezialfähigkeiten genutzt wird. Das sind Fertigkeiten, die im Kampf große Vorteile verschaffen, aber nur selten eingesetzt werden können. Ein einfaches Beispiel ist eine Schockwelle, die Gegner etwas zurückschleudert. Das ist sehr hilfreich, wenn Jess umzingelt ist. Die Kämpfe spielen sich nach einer kurzen Eingewöhnung eingängig und flott. Im letzten Moment auszuweichen, um anschließend einen finalen Hieb zu landen, wird nie alt. Trotzdem kam uns die Kollisionsabfrage manchmal ungenau vor, auch wenn das keine großen Auswirkungen auf den Spaß hatte.
Großartige Atmosphäre mit technischen Schwächen
Die größte Schwäche von The Chant macht sich bereits in der ersten Spielminute bemerkbar: Visuell wirkt das Spiel trotz Exklusivität auf PS5 und Xbox Series X/S veraltet. Besonders die Beleuchtung ist enttäuschend: Zwar sorgt die Taschenlampe manchmal für schönes Schattenspiel, doch in vielen anderen Situationen wirken die Szenen flach.
Hier fehlt ein kluger Einsatz von Licht, wie man es zum Beispiel aus Titeln wie The Evil Within kennt. Trotzdem gelingt dem Spiel eine einzigartige Atmosphäre, die unter anderem durch den Soundtrack erzeugt wird. Dieser wirkt ein wenig, als wäre er den 70ern entsprungen, womit Erinnerungen an Filme wie "The Wicker Man" wach werden.
Auch das Kreaturendesign hat es in sich, denn hier treffen kosmischer Horror und heidnische Rituale aufeinander, die in ihrer Kombination für erinnerungswürdige Begegnungen sorgen. Da sind zum Beispiel die symmetrischen Mandala-Monster, deren blumenartige Körper bestimmte Bereiche der Insel versperren. Andere Areale sind von der erwähnten kosmischen Macht belegt, was sich in einer Art Schleier in psychedelischen Farben und Geräuschen manifestiert. Bewegt sich Jess durch ihn hindurch, sieht sie bizarre Kreaturen umherschweben, die wie Unterwassertiere anmuten.
Langweilig wird der Anblick nie, weil The Chant seine Handlung mit schnellem Pacing ohne großen Leerlauf vorantreibt. Man hält sich nie zu lange an einem Ort auf, und ständig gibt es eine neue Story-Entwicklung, auch wenn manche Wendungen für Genrefans wenig überraschend kommen dürften. Das ist aber nicht schlimm, denn für sie bleibt The Chant trotzdem ein Geheimtipp, der sich von anderen Horrorspielen abhebt.
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