Cameron "Caz" Leary hat einen richtigen – pardon – Scheißtag erwischt. Eigentlich war der kernige Schotte gerade erst auf der abgelegenen Bohrinsel Beira Delta in der Nordsee angekommen, um dort als Elektriker zu arbeiten.
Doch dann erreicht ihn ein Brief von seiner Frau, in dem sie mit der Trennung droht. Damit nicht genug, denn er muss auch zum Rapport bei seinem Chef, der ihn achtkantig feuert. Und zu allem Überfluss bohrt die Crew kurz vor Caz’ Abreise in der Tiefe in etwas, das besser unangetastet geblieben wäre…
Weg hier! Aber wie?
So beginnt das narrative First-Person-Adventure Still Wakes the Deep, das für die Xbox Series X/S (auch direkt im Game Pass), PS5 und den PC erscheint und das sehr schnell zu einem gnadenlosen Überlebenskampf auf der verwinkelten Bohrinsel wird.
Denn irgendetwas verwandelt die Besatzung in grässlich entstellte und aufgedunsene Wesen mit wabbeligen Tentakeln, weswegen ich in der Rolle von Caz nur einen einzigen Wunsch habe: Bloß weg von dieser verdammten Insel!
Und genau das ist dann auch das Ziel von Still Wakes The Deep, aber ihr ahnt sicher schon, dass das kein leichtes Unterfangen wird. Und tatsächlich stolpert Caz statt in einen rettenden Helikopter von einer Katastrophe in die nächste. Wege sind versperrt, der Generator ausgefallen, Öltanks laufen aus, Gas muss umgeleitet werden und einiges mehr.
Und ähnlich wie Isaac Clarke in Dead Space wird Caz nach und nach von anderen überlebenden Charakteren wie der Mechanikerin Finlay und dem Koch Roy an unterschiedliche Orte von Beira Delta geschickt, um dort die sprichwörtlichen Kohlen aus dem Feuer zu holen.
Story und Charaktere von Still Wakes the Deep bewegen sich insgesamt auf solidem, aber nicht überragendem Niveau. Caz habe ich allerdings schon nach kurzer Zeit ins Herz geschlossen. Unter anderem deshalb, weil er ständig mit Flüchen um sich wirft, was ich in ähnlicher Situation wohl auch tun würde.
Außerdem erfahre ich im Laufe des Spiels immer mehr über ihn und die Beziehung zu seiner Frau – und natürlich gibt es auch einen Grund, warum ihn sein Chef rausschmeißt.
Die grundsätzliche Story bleibt hingegen bis auf das Ende, das genug Raum für Interpretationen lässt, recht überraschungsarm – zumindest für Horror-erfahrene Spieler*innen.
Accessibility-Optionen
In den Einstellungen von Still Wakes the Deep gibt es auch einige Barrierefreiheits-Optionen. Die Untertitel lassen sich beispielsweise vielfältig anpassen (Größe, Transparenz, Rahmen etc.), es gibt Einstellungen für Farbenblinde, das Kamerawackeln und Kopfwippen sowie Eingabehilfen für die Quick-Time-Events. Außerdem könnt ihr auf Wunsch gelbe Markierungen einblenden, die euch den Weg über die Bohrinsel erleichtern.
Das hat Still Wakes the Deep spielerisch zu bieten
Wie die bisherigen Spiele von The Chinese Room ist Still Wakes the Deep im Kern ein linearer Walking-Simulator, aber glaubt mir, in diesem Spiel werdet ihr auch rennen – denn es gibt gute Gründe dafür.
Aber auch ganz generell steckt hier mehr spielerisches Fleisch auf den Knochen als beispielsweise bei Dear Esther. Caz muss unter anderem Schächte aufschrauben, Winden bedienen, an Rädern drehen, klettern, Wagen mit Werkzeugen verschieben oder Feuer löschen. Und auch die guten alten Quick-Time-Events gibt es, denn viele brenzlige und gescriptete Situationen lassen sich nur durch schnelles Tastenhämmern überleben.
Dieser Aufgaben-Mix gibt mir zwar das angenehme Gefühl, etwas zu tun und nicht nur einen Film zu schauen, bleibt dabei spielerisch aber auch stets ziemlich seicht. Die größte Herausforderung sind die Situationen, in denen Caz unbemerkt an den abscheulichen Wesen vorbeischleichen muss, zu denen einige der Besatzungsmitglieder mutiert sind.
In diesen Arealen (z.B. Generatorenraum oder Wäscherei) gibt es aber meist ausreichend Lüftungsschächte, Spinde oder andere Versteckmöglichkeiten sowie Wurfgegenstände (Schraubenschlüssel, Flaschen etc.), mit denen sich die Biester in andere Richtungen locken lassen.
Auch wenn das keine Kämpfe sind – die gibt es in Still Wakes the Deep generell nicht – geht hier mein Adrenalinspiegel merkbar nach oben, ähnlich wie bei Alien Isolation.
Das Horror-Adventure spielt sich in all diesen Situationen zwar gefällig, in manchen Momenten aber auch etwas hakelig, zum Beispiel, wenn sich Caz auf schmalen Vorsprüngen über einen Abgrund entlang quetscht. Außerdem gibt es Stellen, in denen zwar schnelles Handeln gefragt, aber nicht sofort klar ist, was getan werden muss. Das resultiert dann oft in einem Bildschirmtod, was aber dank der meist fairen Rücksetzpunkte kein allzu großes Ärgernis ist.
Spielerisch solltet ihr also kein Feuerwerk erwarten, das zündet Still Wakes the Deep dafür in zwei anderen Kategorien: Atmosphäre und Sound. Schon bei der Ankündigung versprach allein das Setting (Fast allein auf einer abgelegenen Bohrinsel mit furchterregenden Wesen) Gänsehaut pur und dieses Versprechen löst der Titel auf beeindruckende Art und Weise ein.
Direkt ins Herz gebohrt
Der wohl wichtigste Grund für die packende Atmosphäre und mein absolutes Highlight des Spiels ist die Bohrinsel selbst. Dieses menschengemachte Labyrinth aus Gängen, Rohren und Schächten ist derart klaustrophobisch, detailliert und glaubwürdig gestaltet, dass ich nach Abschluss des Spiels das Gefühl habe, zu wissen, wie so eine Bohrinsel funktioniert.
Außerdem sorgt das markerschütternde Ächzen und Knarzen der gesamten Konstruktion dafür, dass sich Beira Delta wie ein eigener, langsam sterbender Charakter anfühlt. Und da ich nie weiß, was hinter der nächsten Biegung lauert – und das Spiel auch bewusst mit dieser Angst spielt – habe ich mich mehrfach dabei ertappt, wie ich mit angehaltenem Atem durch die engen Gänge geschlichen bin und sich meine Hände an den Controller krampften.
Wie bei Dead Space oder zuletzt Hellblade 2 empfehle ich auch bei Still Wakes the Deep oder zuletzt Hellblade ausdrücklich Kopfhörer, dann ist das Erlebnis ähnlich intensiv!
Leider gibt es aber immer wieder Momente, in denen ich aus dieser dichten Atmosphäre herausgerissen werde. Immer wenn Caz beispielsweise einen neuen Bereich der Bohrinsel betritt, gibt es eine kurze Ladepause, was sogar relativ häufig vorkommt.
Vermutlich ist es The Chinese Room nicht möglich gewesen, die Bohrinsel als einen großen, nachladefreien Komplex zu bauen. In manchen Szenen hätte ich mir das allerdings gewünscht.
Und so toll und positiv eklig ich das Design der Monster auch finde: Wenn Teile ihrer Körper und Fangarme durch Wände ploppen und glitchen, während ich schwitzend dahinter kauere, sitze ich plötzlich wieder vor einem Videospiel – und nicht auf der düsteren Bohrinsel in der stürmischen Nordsee.
Die Technik von Still Wakes the Deep
Detaillierte Areale, eklige Monster, tolle Lichteffekte: Still Wakes the Deep ist in der von mir getesteten Xbox Series X-Version an vielen Stellen ein echter Hingucker, der vor allem durch den optional abschaltbaren Grieselfilter noch einmal etwas mehr Charakter bekommt.
Es gibt sowohl einen Quality-Modus mit höherer Auflösung als auch einen Performance-Modus mit höherer Framerate. Ich habe die meiste Zeit in letzterem gespielt und kann das vor allem deswegen empfehlen, weil mir die Bildrate der Qualitäts-Einstellung an einigen Stellen etwas holprig vorkam.
Erfreulicherweise lief der Test auch ohne größere technische Probleme ab, bis auf eine kleine Ausnahme: An einer Stelle gab es einen kleinen Bug, als ich in einer Passage in einer Wand hängen blieb und dadurch nicht weiterkam. Abhilfe brachte nur ein Neuladen des letzten Checkpoint.
Toller Schotten-Slang
Still Wakes the Deep hat übrigens keine deutsche Sprachausgabe, aber ich glaube auch nicht, dass man den Charme der fantastischen englischen Sprecher*innen mit ihrem harten und teils schwer verständlichen schottischen Akzent adäquat ins Deutsche hätte hinüber retten können.
Für das Verständnis der Geschichte sind die deutschen Untertitel aber absolut ausreichend, entscheidender Motivationstreiber bleibt ohnehin die Frage: "Schaff ich es von der Bohrinsel runter oder nicht?", die mich bis bis zum Abspann bei der Stange gehalten hat.
Der ist übrigens nach knapp vier bis fünf Stunden erreicht. Das mag nach wenig klingen, ist für einen stressintensiven Titel wie Still Wakes the Deep aber genau richtig. Und hat auch dazu beigetragen, dass ich den Scheißtag von Cameron "Caz" McLeary wirklich gerne gespielt habe.
Fazit der Redaktion
Tobias Veltin
@FrischerVeltin
Schon die Ankündigung von Still Wakes the Deep drückte viele Knöpfe bei mir. Setting, Atmosphäre, Grafikstil – ich wusste von Anfang an, dass mir das gefallen könnte. Und so ist es dann letztlich auch gekommen, denn das neue Spiel von The Chinese Room ist genau das geworden, was ich mir davon versprochen habe: Ein kompakter Horror-Happen mit dichter Atmosphäre und mehreren intensiven Schreckmomenten.
Dass das spielerisch nur oberflächlich ist und es keine Kämpfe gibt, stört mich dabei nicht im geringsten. Im Gegenteil, es tut tatsächlich mal gut, keinen Superhelden zu spielen, der alle Bedrohungen problemlos ins Nirvana ballert. Still Wakes the Deep vermittelt mir nämlich glaubhaft, dass mein "Durchschnitts-Charakter" erbarmungslos um sein Leben kämpft und in manchen Situationen über sich hinauswächst. An einem Ort, den ich nicht so schnell vergessen werde, die Bohrinsel ist nämlich einfach fantastisch.
Ein langfristiger Klassiker wird der Titel aufgrund seiner Schwächen für mich zwar nicht werden – wohl aber ist Still Wakes the Deep für mich persönlich ein kleines Highlight des bisherigen Jahrgangs.
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