Die größte Leistung von Shenmue 3 kann man weder hören noch sehen. Nur fühlen. Und das eigentlich auch nur, wenn man Shenmue 1 und/oder Shenmue 2 gespielt und im besten Fall gemocht hat. Yu Suzuki und sein Team haben mit Shenmue 3 etwas geschaffen, auf das Fans der Reihe seit 18 Jahren sehnlichst gewartet haben. Nur: Die größte Stärke erweist sich im PS4-Test gleichzeitig auch als Schwäche.
Dass Shenmue 3 wirklich eine "echte" Fortsetzung ist zeigt sich schon an der Story. Denn die setzt an exakt dem Punkt an, an dem Shenmue 2 anno 2001 mit einem großen Cliffhanger endete. Ryo Hazuki ist auf der Suche nach dem Mörder seines Vaters und dem Geheimnis des mysteriösen Phönix-Spiegels in der chinesischen Provinz gelandet und findet dort Unterschlupf bei der jungen Shenhua. Deren Vater - ein Steinmetz - ist verschwunden, also begeben sich die zwei auf Spurensuche im nahegelegenen Dorf Bailu.
Shenmue-typisch entfaltet sich die Geschichte nur sehr langsam, die Entwicklungen nach zehn Spielstunden lassen sich in vier bis fünf Sätzen zusammenfassen. Höhepunkte gibt es bis dahin nur wenige, denn die hebt sich das Spiel für das Finale auf, das nach etwa 25 bis 30 Spielstunden erreicht ist. Danach haben Fans einige neue und auch interessante Erkenntnisse, abgeschlossen wird die Saga aber nicht.
Da liegt ordentlich Staub drauf. Gut so (?)
Shenmue 3 ist kein Videospiel moderner Prägung, ganz im Gegenteil. Fast alles - sowohl bei der generellen Anmutung als auch beim Spieldesign - wirkt auf objektive Augen altbacken, angestaubt. Den Großteil des Spiels seid ihr damit beschäftigt, von A nach B zu laufen, nur um von Person C zu erfahren, doch bitte zu Ort D zu gehen. Ryo wirkt nach wie vor unbeholfen und schwer von Begriff, die prinzipiell offen wirkende Spielwelt gängelt durch unsichtbare Wände, die Menüs erinnern an die PS2-Ära, die Dialoge sind zu großen Teilen hanebüchen und holprig. Das ganze Spieltempo ist behäbig und entschleunigt, trotzdem gibt es kleinere Ruckler, Figuren ploppen spät ins Bild.
Kurzum: Es gibt ziemlich viele Gründe, Shenmue 3 nicht zu mögen, insbesondere dann, wenn man ein Videospiel moderner Prägung erwartet. Und jeder, der schon zu Dreamcast-Zeiten keinen Zugang zu Shenmue gefunden hat, wird ihn sicher auch jetzt nicht finden.
Für Shenmue-Liebhaber ist der dritte Teil aber exakt das Spiel, auf das sie so lange warten mussten. Quasi von der ersten Minute an ist klar, dass das hier mit jeder einzelnen Faser ein echtes Shenmue ist, das Spielgefühl haben Suzuki und sein Team mehr oder weniger unangetastet ins Jahr 2019 transportiert. Und dazu gehören eben die hin und wieder fremdschämigen Dialoge, die teilweise überzeichneten Charaktere und - natürlich die Spielwelt.
Und die erweist sich auch in Shenmue 3 wieder als Highlight. Sowohl Bailu als später auch das Küstenstädtchen Niaowu sind zwei wunderbar wuselige Mikrokosmen. Zwar wesentlich kompakter als beispielsweise ein GTA 5, dafür aber nahbarer, dichter.
Und in diesen Settings zelebriert Shenmue 3 das banale, alltägliche, repetitive. Morgens hält Ryo einen kurzen Plausch mit Shenhua - meist ist es EXAKT derselbe Dialog - danach geht's ins Dorf, um Anwohner zu befragen, Dinge einzukaufen, an Kapselautomaten zu drehen, Holz zu hacken oder bei einem der zahlreichen Minispiele (Angeln, Automaten, Arcades) die Zeit totzuschlagen, bis es dann abends wieder zu Shenhuas Haus zurückgeht - um 21 Uhr ist in der Welt von Shenmue 3 Zapfenstreich.
Iss was!
Das Erkunden dieser Welt hat uns beim Test viel Spaß gemacht, Stolpersteine gibt es dabei dennoch zuhauf. Das Ausdauersystem beispielsweise nervt kolossal. Denn mit der Zeit verliert Ryo Energie, die er nur durch Essen wieder auffüllen kann. Möglichkeiten dafür gibt es zwar genug - zum Beispiel in Form von Obst, Früchten oder Brötchen - dennoch stört das System beim Fallenlassen in die Spielwelt, weil der Blick ständig in die untere linke Bildschirmecke zur Energieanzeige wandert. Und dann steht man schon mal an der Ecke und stopft sich rohes Gemüse oder andere Delikatessen rein, um die Anzeige wieder zu füllen. Insbesondere vor Kämpfen solltet ihr dringend etwas futtern, sonst geht Ryo schneller K.o., als euch lieb ist.
Apropos Kämpfe: Die sind insbesondere zu Beginn noch rar gesät, das erneut an Suzukis Virtua Fighter angelehnte System dahinter allerdings das bislang ausgetüfteltste der Serie. Ryo hat ein ganzes Portfolio von Moves drauf, die mit entsprechenden Button-Kombinationen ausgelöst werden, neue könnt ihr euch später dazuverdienen oder kaufen.
Während ihr in den unteren Schwierigkeitsgraden mit Button-Mashing durchkommt, erfordern Durchgänge auf den beiden höheren Stufen den geschickten Einsatz der Blocken-Taste und genaues Beobachten der Gegner. Schön: Durch Sparrings-Kämpfe im örtlichen Dojo sowie Training mit Holzapparaturen steigert Ryo seine Kampfkraft und Ausdauer. Später ist das sogar zwingend notwendig, um in der Story weiterzukommen.
Das kann dauern
Das ist gleichzeitig aber wiederum einer der Kritikpunkte am Spiel. Denn Shenmue 3 kann nicht verhehlen, dass es seine Spielzeit hier und da ganz schön streckt. Dialoge wiederholen sich beispielsweise und lassen sich nicht abbrechen, auch viele Sequenzen wie Shenhuas Verabschiedung am Morgen haben wir etliche Male gesehen. Aber auch spielerisch zieht sich einiges in die Länge: An ein paar Stellen im Spiel müssen wir zum Beispiel Häuser oder Räume nach Hinweisen durchforsten.
Und das schließt ein, dass wir dafür gefühlt dutzende Schubladen öffnen müssen - jede einzelne davon durch zweimaliges Betätigen der X-Taste. Und kurz vor der Hälfte des Spiels müssen wir einen sehr hohen Geldbetrag zusammensammeln, was extrem lang dauern kann. Wohl dem, der dann noch nicht alle Kräuter in der Umgebung gefunden und verkauft hat oder willens ist, für eine halbe Stunde Holz zu hacken - letzteres ist die beste regelmäßige Einkommensquelle, aber eben auch unfassbar repetitiv.
Wie konsequent Yu Suzuki und sein Team ihren Stil auch beim dritten Shenmue durchziehen, ist bemerkenswert. Dass Shenmue 3 sich nicht an moderne Spiele anbiedert und sich stattdessen komplett auf das frühere Konzept verlässt, ist allerdings insbesondere für Neueinsteiger irritierend und ärgerlich. Die wenigen neuen Komfortfunktionen wie die Möglichkeit, per Knopfdruck an einen bestimmten Ort zur passenden Uhrzeit zu springen - wenn etwa eine Person erst ab dieser Zeit zuhause ist - nehmen aber auch Fans der ersten Stunde gerne mit.
Eine ähnliche Erleichterung hätten wir uns auch für die Quicktime-Events gewünscht, denn die haben uns beim Test mehr genervt als gefallen. Der Grund sind die viel zu kurzen Zeitfenster, in denen die angezeigte Taste gedrückt werden muss, mehrfaches Wiederholen der Sequenzen war leider keine Seltenheit.
Aller Ehren wert
Auch technisch ist Shenmue 3 weit von aktuellen AAA-Produktionen entfernt, was angesichts des deutlich geringeren Budgets aber kaum verwundert. Und abgesehen von den stellenweise etwas befremdlich wirkenden (Gesichts-)Animationen und den bereits angesprochenen Fehlerchen wie Fade-Ins und Rucklern ist das, was Ys Net hier auf den Bildschirm bringt, aller Ehren wert. Bailu und Niaowu bieten einen schönen Kontrast und sind idyllisch designt, auch die detaillierten Innenräume bieten eine Menge fürs Auge.
Die englische Sprachausgabe hat zwar insbesondere wegen Ryos Sprecher Corey Marshall einen Nostalgiebonus, wirkt nach heutigen Maßstäben aber ziemlich bräsig. Dafür gibt's für Soundtrack ein Sonderlob, denn die Musikstücke sind fast durch die Bank wunderschön und passend. Und tragen damit ganz maßgeblich zur größten Leistung von Shenmue 3 bei. Ihr wisst schon: Die, die man nicht hören oder sehen kann. Nur fühlen.
- Mehr Hintergrund: Test der Shenmue 1 & 2 Collection
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