"Ich hab’ so ein bisschen OCD." Diese Aussage dürfte den meisten von Euch schon einmal begegnet sein – sei es im privaten Umfeld, online oder in Filmen und Serien. Auch im Gaming-Kontext wird das Kürzel, das für "Obsessive Compulsive Disorder" steht, gerne genutzt, um meist augenzwinkernd auf einen übertriebenen Ordnungsdrang oder eine Tendenz zum Perfektionismus hinzuweisen, etwa wenn jemand in Spielen grundsätzlich alle Collectibles aufsammelt.
Doch in der Realität ist das hierzulande als Zwangsstörung oder Zwangserkrankung bezeichnete Krankheitsbild weit komplexer, als die umgangssprachliche Definition vermittelt, und es kann zu einer immensen Belastung werden: "Wenn ich jemals eine falsche Entscheidung traf, steigerte ich mich immer weiter hinein. Ich konnte es nicht dabei belassen und in der Hochphase meiner Zwanghaftigkeit begnügte ich mich nicht mehr damit, zu einem früheren Speicherpunkt zurückzukehren, sondern begann das ganze Spiel von vorn. Ich spürte dieses Verlangen, einen neuen Anfang frei von Fehlern zu machen," so beschreibt der unter einer Zwangsstörung leidende US-Amerikaner Jason Almenas seine Erfahrungen mit Mass Effect 2 und dem spielinternen Moralsystem.
Contentwarnung: Die Artikel der Mental-Health-Woche befassen sich mit verschiedenen Aspekten mentaler Gesundheit und beinhalten mitunter auch Beispiele negativer Emotionen und ungesunder Verhaltensweisen, die bei manchen Menschen negative Reaktionen auslösen können. Bitte seid vorsichtig bei Texten, die potenziell triggernde Themen für euch enthalten.
Wichtiger Hinweis: Falls ihr selbst Depressionen oder selbstzerstörerische Gedanken habt: Ihr seid nicht allein. Holt euch bitte Hilfe. Zum Beispiel bei der Deutschen Depressionshilfe unter 0800/33 44 533 oder bei kostenlosen Beratungsstellen.
Jedes Mal, wenn sein als vorbildlich gespielter Charakter aufgrund einer falschen Entscheidung auch nur einen einzigen "Abtrünnigkeitspunkt" erhielt, musste er neu anfangen. Er brauchte daher mehrere Monate, um das Spiel zu beenden.
Klicke ich nicht genau zehnmal auf dieses Item, stirbt meine Mutter
Der wichtigste Unterschied zwischen bloßem Perfektionismus und einer Zwangsstörung ist die Freiwilligkeit, mit der bestimmte Handlungen ausgeführt werden. Spieler*innen mit Perfektionsanspruch können die damit verbundenen Impulse bei Bedarf unterdrücken oder ein Spiel sogar vorzeitig abbrechen, wenn sie keinen Spaß daran haben.
Zur Autorin
Nina Kiel ist freischaffende Spielejournalistin, -forscherin und -entwicklerin und lebt bereits seit ihrer frühen Jugend mit einer Zwangsstörung – deswegen war es ihr ein persönliches Anliegen, diesen Artikel zu schreiben. Für sie selbst ist Gaming einer der wenigen Lebensbereiche, in denen keine Zwänge auftreten, und damit ein wichtiger Ausgleich zum stressigen Alltag.
Bei zwangsgestörten Menschen ist das anders: Sie müssen diese Handlungen ausführen, weil sie sonst von unangenehmen Gedanken und Gefühlen überwältigt werden und zum Beispiel glauben, dass einem geliebten Menschen etwas zustoßen könnte, wenn sie nicht zehnmal auf ein Item klicken. Dabei ist den Betroffenen bewusst, dass sie irrational handeln und kein plausibler Zusammenhang zwischen der Handlung und den befürchteten Konsequenzen besteht. Sie empfinden ihr eigenes Verhalten als unsinnig und belastend, aber müssen ihm trotzdem nachgehen: Sie unterliegen einem Zwang.
"Der Gedanke, ein Spiel nicht zu beenden und es nie wieder anzurühren, könnte [bei einer Person mit Zwangsstörung] ein tiefgreifendes, qualvolles Gefühl von Anspannung und Angst auslösen," erklärt die studierte Pädagogin Courtney Garcia, die sich auf positive Medienpsychologie spezialisiert hat und auf ihrem YouTube-Kanal "Screen Therapy" mit der Verknüpfung von Mental Health und digitalen Spielen auseinandersetzt. Der daraus resultierende Druck, so erklärt Garcia im Interview, könne sich im Schlimmstfall sogar langfristig negativ auf den Alltag der Betroffenen auswirken und deren Schlafrhythmus, Essverhalten, oder auch Beziehungen zu anderen Menschen negativ beeinflussen.
Gefangen im Charakter-Editor
In welcher Form, Intensität und in welchen Zusammenhängen sich Zwänge manifestieren, unterscheidet sich jedoch von Person zu Person. Während einige Probleme damit haben, Spiele zu beenden, sehen sich andere gar nicht erst dazu imstande, sie richtig zu beginnen: So etwa die User*innen, die sich auf Reddit über ihr "Character Creation OCD" austauschen.
"Ich meine nicht nur, Stunden in einem Charakter-Editor zu verbringen, Details zu perfektionieren, und so weiter. Ich meine, Stunde um Stunde, Woche um Woche damit zu verbringen, den Anfang eines Spiels wieder und wieder zu beginnen, zwischen Charakterklassen zu wechseln und das Erscheinungsbild, sogar den Charakternamen zu ändern, und das so oft, dass dir schlecht wird. Manchmal tue ich das so oft, dass ich am Ende einfach aufgebe.", schreibt User*in catbug.
Eine ähnliche Erfahrung hat auch Jason gemacht, der an der Erstellung seines Charakters in Skyrim fast verzweifelt wäre. Nicht nur musste er sich die zahlreichen Optionen für unterschiedliche Nasenformen, Wangenknochenwinkel und Augenfarben alle anschauen und dann in mühevoller Kleinarbeit nacheinander seine Auswahl treffen, sondern den gesamten Prozess von vorne beginnen, falls er sich dabei mal verklickte.
Diese "Ritualisierung" – das Ausführen bestimmter Aktionen in einer festgelegten Reihenfolge – ist ebenfalls typisch für Zwangserkrankungen und kann Betroffene sehr viel Zeit und Kraft kosten. Mitunter so viel, dass sie irgendwann völlig erschöpft zusammenbrechen.
Offene Welten – und doch keine Freiheit
Aktuelle Entwicklungen in der Spieleindustrie könnten das Auftreten solcher Symptome begünstigen, wie Dr. Benjamin Strobel im Interview erklärt. Der Psychologe widmet sich im Podcast "Behind the Screens" mit seinem Team dem Schnittfeld zwischen Games und Psychologie: "Je mehr und je komplexere Aufgaben ein Spiel hat, also viele Nebenquests, Challenges, Achievements, Item-Listen usw., desto größer wird eventuell der zeitliche und kognitive Aufwand, um etwa einen Kontrollzwang zu befriedigen." Gerade der Trend hin zu großen, offenen Spielwelten, deren vollständige Erkundung viel Zeit beansprucht, bringt potenziell Probleme mit sich.
Gleichzeitig birgt die Spielen inhärente Möglichkeit, Aufgaben perfekt zu erledigen und ein Bedürfnis nach Vollständigkeit zu befriedigen, laut Courtney Garcia auch Potenzial für positive Erfahrungen: "Das Leben ist komplex und ein bisschen chaotisch – Zwangshandlungen können hier manchmal aufgrund äußerer Umstände nicht in Ruhe ausgeführt werden und Betroffene darüber verzweifeln. In Spielen gibt es bleibende Daseinszustände und Errungenschaften, die erreicht werden können. Es besteht eine Sicherheit, dass etwas definitiv und unwiderruflich abgeschlossen oder geschafft wurde, die im echten Leben selten auftritt." Für manche Zwangserkrankte könnten Games damit, zumindest zeitweise, ein "sicherer Hafen" sein, in dem sie Zwangshandlungen perfekt und zuverlässig auszuführen imstande sind.
Da diese Handlungen nur kurzzeitig Linderung verschaffen und Symptom einer ernstzunehmenden psychischen Erkrankung sind, ist das allerdings keine langfristige Lösung. Stattdessen wäre ein anderer Anwendungsansatz denkbar: Spieler*innen könnten sich im virtuellen Raum gezielt mit ihren irrationalen Ängsten konfrontieren und wie in der klassischen Expositionstherapie nach und nach lernen, sie zu ertragen.
Eine unter Kontrollzwängen leidende Person würde dann zum Beispiel – unter professioneller Aufsicht – bewusst darauf verzichten, alle fünf Minuten das Inventar zu öffnen, um dessen Inhalt penibel auf Vollständigkeit zu prüfen. Und ein sich vor Kontamination mit gefährlichen Keimen fürchtender Mensch bekäme den Auftrag, seinen Avatar gezielt durch dreckiges, sumpfiges Terrain zu bewegen.
Mehr dazu, wie VR bei der Therapie helfen kann, gibt es hier:
Ein kaum erforschtes Thema
Nur: Aktuell handelt es sich dabei um experimentelle und wenig erprobte Ansätze, da in der Wissenschaft kaum gezielte Auseinandersetzung mit dem Thema stattfindet. "Der Bereich ist auf jeden Fall untererforscht, das ist oft zu beobachten, wenn es um Games geht, die lange Zeit als Forschungsgegenstand nicht ernst genommen wurden. Die psychologische Forschung hat, abseits vom Thema Aggression und Abhängigkeit, nur sehr wenige Vorstöße in die Erforschung von Games gemacht," so Dr. Benjamin Strobel.
Die wenigen existierenden Studien befassen sich schwerpunktmäßig mit Computerspielabhängigkeit, Zwangserkankungen werden nur im Kontext dieses Krankheitsbilds und nicht für sich stehend betrachtet. Ungeklärt ist deshalb auch noch die zentrale Frage, ob bestimmte Spielmechaniken das Auftreten von Zwangsstörungen tatsächlich fördern.
Schon deshalb ist es wichtig, Spielverhalten nicht vorschnell zu pathologisieren, wie Strobel betont. "Auch wenn man sich hier wiedererkennt, bedeutet das noch nicht, dass eine klinisch relevante Störung vorliegt. Bei dem Störungskonzept ist in der Psychologie immer bedeutsam, ob man selbst darunter leidet oder es wiederholt zu Problemen kommt. In solchen Fällen ist eine psychologische Diagnostik und ggf. eine geeignete Psychotherapie hilfreich."
Auch Garcia empfiehlt ausdrücklich, im Verdachtsfall zunächst eine Diagnose einzuholen und dann in Absprache mit medizinischem Fachpersonal weitere Schritte einzuleiten. Im Rahmen der Therapie könnten Betroffene lernen, ihr Spielverhalten kritisch zu reflektieren und zu einem gesunden Medienkonsum zurückzufinden. Denn selbst wenn Spiele kurzzeitig ein sicherer Ort zum Ausleben von Zwängen sein können, sollten sie nicht ausschließlich dafür genutzt werden: "Jemand, der mit Gaming nur seine Zwänge zu befriedigen versucht, muss eventuell seine Beziehung zu Spielen überdenken und versuchen, sie bewusst für intrinsischen Spaß, Genuss, Entspannung und moderate Gefühle von Meisterung und Kontrolle zu nutzen – denn das sind die Emotionen, die Medienpsycholog*innen zufolge zum allgemeinen Wohlbefinden beitragen können."
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"Dieses Spiel hat mein Leben verändert"
Diesen Ansatz verfolgt Jason bereits und achtet bewusster darauf, welche Spiele ihm gut tun. Vor allem mit linearen und storylastigen Spielen wie What Remains of Edith Finch hat er gute Erfahrungen gemacht, zu seiner großen Überraschung war sein persönliches Highlight der letzten Jahre aber ein anderer Titel, den er aus Angst vor auftretenden Zwängen lange gemieden hat: The Legend of Zelda: Breath of the Wild. "Ich habe es erst 2020 gespielt und das magische Design dieses Games konnte alle zwanghaften Gedanken abwehren. Es hat mein Leben verändert," erzählt Jason begeistert.
Neben einem achtsameren Umgang mit Spielen hat Jason aber vor allem geholfen, offen über seine Erkrankung zu sprechen und den Austausch mit anderen Betroffenen zu suchen – auch in der Gaming-Community. "Eine Zwangsstörung ist eine kraftraubende psychische Krankheit; sie ist lähmend, bezwingend. Aber Ihr seid nicht allein. Je mehr wir darüber sprechen, desto weniger Macht hat sie über uns."
Eine wichtige Bitte: Da es sich bei unseren Artikeln aus der Mental Health-Woche um sensible Themen handelt, die uns beim Schreiben teilweise viel abverlangt haben, bitten wir euch an dieser Stelle ganz besonders um eine freundliche und verständnisvolle Kommentarkultur. Vielen Dank und viel Spaß beim Lesen!
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