Virtual Reality ist nicht nur eine neue Spieleplattform, sondern viel mehr eine Technologie, die nahezu grenzenlose Einsatzmöglichkeiten besitzt. Von virtuellen Versammlungen und Konzerten über digitale Besichtigungen und Raumplanungen bis hin zu Virtual Reality Therapie. Aber Moment, warum sollte man für Therapie überhaupt in einen VR-Raum gehen? Und welchen Mehrwert bietet ein virtueller Raum für die Therapie von Angsterkrankungen?
Contentwarnung: Die Artikel der Mental-Health-Woche befassen sich mit verschiedenen Aspekten mentaler Gesundheit und beinhalten mitunter auch Beispiele negativer Emotionen und ungesunder Verhaltensweisen, die bei manchen Menschen negative Reaktionen auslösen können. Bitte seid vorsichtig bei Texten, die potenziell triggernde Themen für euch enthalten.
Wichtiger Hinweis: Falls ihr selbst Depressionen oder selbstzerstörerische Gedanken habt: Ihr seid nicht allein. Holt euch bitte Hilfe. Zum Beispiel bei der Deutschen Depressionshilfe unter 0800/33 44 533 oder bei kostenlosen Beratungsstellen.
Wie geht eigentlich „(Angst-)Therapie“?
Therapie wirkt auf den ersten Blick wie ein einfaches Gespräch und viele Patient*innen gehen mit der Erwartung in die Therapiestunde, Lebensratschläge zu bekommen. Zwar wird in der Therapie überwiegend geredet, auch über sinnvolle Verhaltensweisen, aber eigentlich geht es um das Erleben neuer Erfahrungen. So sollen Patient*innen beispielsweise merken, dass sie mit ihren Empfindungen und Schwierigkeiten nicht allein sind, oder es schaffen können, sich ihren größten Ängsten zu stellen.
Bei der Behandlung von Angsterkrankungen hört man als behandelnde Person oft den Wunsch, dass die Angst “weg” ist. Das ist aber nicht im Sinne einer gesunden Psyche. Unsere Gefühle sind Botschafter und Angst wirkt dabei wie eine Alarmanlage: Wir nehmen etwas als gefährlich wahr und unser System macht alle Energiereserven bereit, um wegzulaufen.
Zur Autorin
Jolina zählt zu denjenigen, die eigentlich schon immer neugierig auf VR-Spiele und Erlebnisräume waren, aber von den ersten technischen Umsetzungen eher abgeschreckt wurden. Seit sie sich allerdings das erste mal wie ein Ninja auf Speed gefühlt hat, als sie bei Freunden Beatsaber gespielt hat, ist ihr Interesse an Virtual Reality und allen technischen Möglichkeiten - auch beruflich als Psychologin - neu entfacht.
Wenn Angst krankhaft wird…
Das blöde ist, dass unsere Alarmanlage “Angst” manchmal defekt ist: Wir haben Angst vor Dingen, die eigentlich ungefährlich für uns sind. Sie schlägt quasi falschen Alarm. Manchmal wissen das Betroffene bereits, verspüren aber beim Weberknecht in der Zimmerecke trotzdem fast schon Todesangst. Was diesen Personen dann hilft, ihre Alarmanlage zu “reparieren”, ist eine widerlegende Erfahrung: Das psychische System lernt, dass ein Kontakt mit dem angstauslösenden Reiz (hoffentlich) nicht tödlich verläuft, und schlägt fortan immer weniger Alarm.
Diese Vorgehensweise bezeichnet man im psychologischen Fachjargon auch als “Exposition” und ist im Volksmund auch unter dem Namen “Konfrontationstherapie” bekannt. Bisher standen für diese Art der Therapie 2 Möglichkeiten zur Verfügung:
- In-Sensu: Sich in der Vorstellung den Ängsten stellen
- In-Vivo: in einer realen Situation mit der Angst in den Boxring steigen
Durch Virtual Reality ergibt sich jetzt aber eine dritte und sehr wertvolle Möglichkeit dazwischen: „in-virto“.
Die virtuelle Gegegnung mit der Angst
Okay, sich der Angst stellen ist wichtig, aber warum in VR? Virtual Reality bietet einen interessanten therapeutischen Handlungsspielraum, weil es Personen gibt, die sich angstauslösende Bilder nicht gut vorstellen können und eine In-Sensu Behandlung daher nicht gut anschlägt. Manchmal sind Konfrontationen In-Vivo auch nicht möglich oder nur schwer zu erzeugen, beispielsweise bei Angst vor Aliens, exotischen Tieren oder bestimmten Situationen. Hier kann Virtual Reality eine Brücke zwischen den beiden Formen bilden und Erlebnisräume schaffen, welche durch die beiden herkömmlichen Methoden alleine nicht möglich sind.
Auch wenn es jetzt schon einzelne VR-Programme für die Angstbehandlung zu Hause gibt, geht es ganz ohne therapeutische Hilfe doch nicht: Jede*r Teilnehmer*in des VR-Therapieprogramms wird auch eine Therapeut*in zur Seite gestellt. Eine Konfrontationstherapie braucht schließlich eine gute und professionelle Vorbereitung, Begleitung und Nachbesprechung. Ein Vorteil der App ist jedoch, dass Patient*innen Inhalte in ihrem eigenen Tempo erarbeiten und Übungen in der virtuellen Umgebung wiederholen können, und so noch selbstbestimmter am Therapieerfolg mitwirken.
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VR-Therapie bei Angst und wie geht’s weiter?
Aus psychologischer Sicht ist der Einsatz der Virtual Reality-Technologie bei Angsterkrankung sehr intuitiv, ja fast schon ein logischer nächster Schritt. Es gibt oft nur einen angstauslösenden Reiz, den es zu überwinden gilt. Schwieriger sieht es hingegen bei anderen psychischen Erkrankungen aus, was sich auch in der Studienlage zeigt: Während es 2017 bereits 192 Studien zum Einsatz von Virtual Reality bei Angst gab, sind es nur 44 für Schizophrenie und noch weniger bei Essstörungen und Süchten, für Depressionen gibt es bisher nur erste Ideen für die Umsetzung.
Eine Essstörung ist beispielsweise ein komplexes Zusammenspiel aus verschiedenen Faktoren, wie körperbezogenen Leistungsidealen, Körperwahrnehmungsstörungen und dysfunktionalen Emotionsregulationsstrategien. Personen mit Essstörungen haben ja nicht Angst vor dem Essen an sich, sondern vielmehr vor den Implikationen die mit dem Essen einhergehen (z.B. schlechtes Gewissen, Selbstabwertung etc.). Daher ist ein einfaches Präsentieren von Reizen wie Essen in Virtual Reality für eine Essstörung nicht hilfreich, weil es die eigentlichen Sorgen nicht adressiert.
Stattdessen spielen erste Studien für eine Therapie von Essstörungen in VR mit einem ganz fundamentalen psychischen Erleben: Unserem Körpergefühl. Das Phänomen mit dem Namen “Body Ownership” beschreibt dabei unsere Tendenz Körperteile, die sichtbar mit unserem Körper verbunden sind, als eigene zu empfinden. Wäre ja auch blöd, wenn wir beim Müsli Essen nicht wüssten, dass die Person, die uns da den Löffel in den Mund schiebt, wir selbst sind.
Dieses Phänomen tritt dabei auch auf, wenn wir einen virtuellen Körper steuern oder einfach nur einen künstlichen Arm vor uns liegen haben. Wir wissen zwar gedanklich, dass dieser Arm nicht zu uns gehört, fühlen aber Unbehagen wenn ihm etwas zustoßen würde und würden ihn eher wegziehen, wenn jemand versucht, ihn zu verletzen. Body-Ownership als Konzept wurde zwar schon vor Virtual Reality entdeckt, nimmt aber mit dieser Technologie ein neues Ausmaß an. Wie kann man dieses Phänomen also für Therapie nutzen?
Mal ein Wörtchen mit sich selbst reden…
In der Therapie und Beratung von Klient*innen bitte ich die Personen oft, ihre Lage einmal als Außenstehende zu beschreiben, als neutrale Beobachter*in, als gute Freund*in oder aber als ihre eigene Therapeut*in. Diese Abstraktion aus der eigenen Perspektive heraus kann helfen, aus negativen und festgefahrenen Denkmustern auszubrechen.
Durch Virtual Reality kann man nun auch sichtbar in eine andere Perspektive schlüpfen und sich selbst in einem neuen Licht sehen oder sogar mit sich selbst interagieren. Stellt euch vor, ihr könntet euch selbst umarmen, wie würde sich das wohl für euch anfühlen?
Ist VR die Zukunft der Therapie?
Virtual Reality ist eine sehr spannende Technologie für viele Lebensbereiche und in besonderem Maße für die Therapie, weil abstrakte Vorstellungen in der therapeutischen Arbeit dank Virtual Reality in eine sichtbare Welt transferiert werden können.
Hier ist aber auch schon der Haken: Vorstellungen sind vom Patient*innen hochgradig individualisierbar, Virtual Reality Szenarios können aufgrund technischer Limitationen nur begrenzt angepasst werden. Wie guckt die Person, die ich mir als inneren Kritiker vorstelle? Wie alt ist die Person, welche Haltung, Mimik etc. hat sie? Diese kleinen Details machen für die emotionale Aktivierung und für das Erleben einer Person große Unterschiede, beschränken aber momentan aufgrund fehlender technischer Umsetzungen noch das therapeutische Handeln im virtuellen Raum.
Für sehr spezialisierte Szenarien wie einer Spinnenphobie, wo die Individualisierung des Szenarios keine so große Rolle spielt, ist es jedoch jetzt schon eine sehr bereichernde Möglichkeit für die Therapie. Je fortschrittlicher die technische Umsetzung, und je immersiver das Erleben in der virtuellen Realität wird, desto mehr Handlungsspielraum wird sich auch für die Therapie ergeben.
Natürlich wird es auch Kolleg*innen geben, die lieber bei ihren jahrzehntelang bewährten Methoden bleiben. Bisher ist noch unklar mit welche Chancen und Herausforderungen Therapie in Virtual Reality einhergehen. Für mich als junge, technikaffine Therapeutin zeichnet sich die Virtual Reality Technologie jedoch als ein Horizont mit vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten ab und ich kann es kaum erwarten, erste eigene Erfahrungen als Behandlerin mit VR-Therapie zu machen.
Eine wichtige Bitte: Da es sich bei unseren Artikeln aus der Mental Health-Woche um sensible Themen handelt, die uns beim Schreiben teilweise viel abverlangt haben, bitten wir euch an dieser Stelle ganz besonders um eine freundliche und verständnisvolle Kommentarkultur. Vielen Dank und viel Spaß beim Lesen!
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