Returnal ist ein Sci-Fi-Roguelike, in dem die Protagonistin Selene auf einem fremden Planeten in einer Zeitschleife gefangen ist. Oder? Schauen wir genauer hin, sehen wir: das ganze Spiel dreht sich um psychisches Trauma. Belege dafür gibt es nicht nur der Story, auch das Gameplay macht Symptome eines Traumas spielerisch nachfühlbar. Ein psychologischer Blick auf das Design von Returnal verrät, wie das gelingt.
Contentwarnung: Die Artikel der Mental-Health-Woche befassen sich mit verschiedenen Aspekten mentaler Gesundheit und beinhalten mitunter auch Beispiele negativer Emotionen und ungesunder Verhaltensweisen, die bei manchen Menschen negative Reaktionen auslösen können. Bitte seid vorsichtig bei Texten, die potenziell triggernde Themen für euch enthalten.
Wichtiger Hinweis: Falls ihr selbst Depressionen oder selbstzerstörerische Gedanken habt: Ihr seid nicht allein. Holt euch bitte Hilfe. Zum Beispiel bei der Deutschen Depressionshilfe unter 0800/33 44 533 oder bei kostenlosen Beratungsstellen.
Achtung: Es folgen Spoiler zur Geschichte von Returnal.
Raumschiffe, Aliens, eine Zeitschleife - das ist nur die Oberfläche. Was darunter liegt, ist den Spieler*innen von Returnal zunächst verborgen, ebenso wie der Protagonistin Selene. Erst aus den Zwischensequenzen, Audiologs und den zwei Enden des Spiels setzt sich das ganze Bild zusammen: Sie ist weder Astronautin, noch stürzt sie auf einem fremden Planeten ab.
Selene ist traumatisiert. Mit ihrem Sohn auf dem Rücksitz hat sie einen Autounfall, den er nicht überlebt. Zusätzlich ist dieser Unfall selbst eine Retraumatisierung, nachdem Selene bereits als Kind einen Unfall mit ihrer Mutter hatte.
Während sie unbeschadet blieb, wurde ihre Mutter schwer verletzt und musste ihren Traum von der Raumfahrt aufgeben. Selene, die sich schuldig fühlt, möchte an ihrer Stelle Astronautin werden. Diese Besessenheit manifestiert sich symbolisch als mysteriöser Astronaut, den sie überall sieht - so auch im Augenblick vor dem Unfall. Als sie versucht, dem Bild des Astronauten auszuweichen, stürzt das Auto über eine Brücke und versinkt im Wasser.
So oder so ähnlich lassen sich die Ereignisse interpretieren. Eindeutig ist das nicht, denn viele Szenen sind recht abstrakt. Teile der Geschichte bleiben mehrdeutig, unter Fans finden sich verschiedene Interpretationen. Ob Alptraum oder persönliche Hölle, im Kern steht immer der Autounfall. Und auf allen Ebenen des Spiels finden sich Bezüge zur Trauma-Thematik.
Was ist überhaupt ein psychisches Trauma? Kurz gesagt: Wer mit einem lebensbedrohlichen Ereignis konfrontiert wird, reagiert mit Stresssymptomen wie Angst, Alpträumen oder so genannten Flashbacks, bei denen Personen so fühlen und handeln als wären sie wieder in der traumatischen Situation. Bleiben diese Symptome längerfristig bestehen, spricht man von einer Posttraumatischen Belastungsstörung, kurz PTBS.
Roguelike oder auch: Traumatisches Wiedererleben
In Roguelikes müssen wir uns durch eine harte Welt schlagen, sind ständig mit Tod konfrontiert und durchleben das Ganze immer wieder neu. Diese Beschreibung passt aber auch zu einem der häufigsten PTBS-Symptome: das Wiedererleben traumatischer Ereignisse, in der Psychologie auch Intrusionen genannt. Intrusionen können einfache Erinnerungen sein, aber auch Alpträume oder Flashbacks. Dabei können Betroffene einen völligen Wahrnehmungsverlust ihrer Umgebung erleiden, auch wenn dieser Zustand oft nur wenige Minuten anhält.
In Returnal durchlebt Selene immer wieder eine alptraumartig verzerrte Version ihres Unfalls. Jeder Kreislauf beginnt mit dem Raumschiffabsturz, der unmissverständlich für den Unfall steht. Im Spiel geht es dann zuerst in ein Wald-Areal, wie auch die traumatische Autofahrt in einem Wald beginnt, und endet am Grund der Tiefsee, wie auch der Unfall mit dem Versinken im Wasser endet. Zudem können sich Betroffene an wichtige Aspekte des Traumas häufig nicht erinnern.
Das heißt dissoziative Amnesie und auch Selene leidet darunter: Zwar ist sie im ewigen Wiedererleben gefangen, zugleich sind die Ereignisse aber zu einer Geschichte verzerrt, in der sie als Astronautin auf dem Planeten Atropos um ihr Leben kämpft. Erst am Ende eines Spieldurchlaufs findet Selene ein versunkenes Auto und erlangt wieder Zugriff auf ihre Erinnerungen an den traumatischen Unfall.
Abgespalten von der Welt
Zu typischen PTBS-Symptomen zählen negative Einstellungen zu sich und der Welt sowie das Gefühl, von anderen Menschen abgetrennt zu sein. Auch Selene befindet sich in absoluter Einsamkeit auf einem fremden Planeten und hat jeden Kontakt zur Außenwelt verloren.
Spielerisch kommt nicht nur das traumatische Wiedererleben in den Roguelike-Mechanismen zum Ausdruck, auch eine negative Wahrnehmung der Welt wird über das Gameplay vermittelt. Atropos ist voller Feinde, Fallen und widriger Lebensumstände. Hier machtmankeinen Urlaub. Man scheitert, stolpert, stirbt. Das ist die Videospielversion einer bösartigen Welt wie auch Betroffene mit PTBS sie oft erleben.
In einigen Fällen kann es zu einer sogenannten Dissoziation kommen. Das heißt konkret:Betroffene nehmensich selbst oder die Umgebung als unwirklich wahr. Als würden sie sich von außen sehen oder durch einen Traum bewegen. Das beobachten wir auch in Returnal. Manchmal findet Selene Audiologs von einem früheren Selbst, das ihr fremd vorkommt, manchmal findet sie ihre eigene Leiche und steht buchstäblich neben sich.
Ähnlich verhält es sich mit dem Planeten Atropos, der sich nach den Konventionen des Roguelike-Genres mit jedem Neustart verändert und Selene - wie auch uns Spieler*innen - unwirklich und traumartig erscheint.
Selbstzerstörung
Begleitet wird PTBS häufig von riskantem oder selbstverletzenden Verhalten. Auch in Returnal müssen wir immer wieder riskant spielen. Die stärksten Boni finden wir in den gefährlichsten Räumen, beim Einsammeln mächtiger Items riskieren wir negative Statuseffekte. Wir können Selene sogar Parasiten an den Körper heften. Die bringen zwar Vorteile, schaden ihr aber auch.
Bei real Betroffenen kann etwa eine Schnittverletzung subjektiv Erleichterung verschaffen, gleichzeitig ist es eine Schädigung am eigenen Körper. Schließlich endet (fast) jeder Durchlauf von Returnal mit dem Tod. Auch das hat einen Link zur Realität: Personen mit PTBS haben ein 15-mal höheres Suizidrisiko als Nicht-Traumatisierte.
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Übrigens: Selene kann auch als Erinnerung daran gelten, dass Frauen statistisch häufiger und länger unter PTBS leiden als Männer - eine Vielzahl von Faktoren kann dafür eine Rolle spielen, beispielsweise, dass sie häufiger Gewalterfahrungen machen.
Ewiger Kreislauf?
Ein zuversichtliches Ende gibt es in Returnal leider nicht, auch keine Lösung für Selenes Gefangenschaft im Wiedererleben. Egal wie oft wir das Spiel zum Abschluss bringen, es beginnt stets von vorn. In der Realität gibt es hingegen einen Lichtblick: für PTBS gibt es verschiedene Therapien und sie haben eine hohe Wirksamkeit. Anders als auf Atropos haben wir auf der Erde gute Chancen, den Kreislauf zu durchbrechen.
Eine wichtige Bitte: Da es sich bei unseren Artikeln aus der Mental Health-Woche um sensible Themen handelt, die uns beim Schreiben teilweise viel abverlangt haben, bitten wir euch an dieser Stelle ganz besonders um eine freundliche und verständnisvolle Kommentarkultur. Vielen Dank und viel Spaß beim Lesen!
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