Ist das echt? Diese ungläubige Frage stellten vermutlich nicht nur wir uns bei den Trailern zu Atomic Heart. Denn das Erstprojekt des russischen Studios Mundfish sah darin selbst für Appetizer, die Trailer ja eigentlich immer sind, derart poliert und fast schon unrealistisch gut aus, dass bei uns neben Neugier auch Zweifel aufkamen.
Dass es kaum Angespielt-Eindrücke vor der Veröffentlichung gab, verstärkte die Skepsis noch. Doch wir können euch versichern: Atomic Heart ist echt, schließlich haben wir es für unseren Test komplett durchgespielt. Und dabei ein echtes Wechselbad der Gefühle erlebt.
Atomic Heart macht eine spannende alternative Zeitlinie auf. Nach dem Sieg im Zweiten Weltkrieg hat die Sowjetunion durch die Entdeckung des Polymers und große Anstrengungen in Wissenschaft und Robotik riesige Sprünge gemacht, Neuroimplantate entwickelt, Armeen von Robotern für nahezu alle Tätigkeiten produziert und sogar riesige fliegende Städte gebaut.
Und in genau einer solchen starten wir das Spiel dann auch in der Uniform des KGB-Agenten Sergej Netschajew (alias “P-3”), der dort Industrieminister und Vater des Fortschritts Dimitri Setschenow treffen soll. Auch dabei: Netschajews sprechender Multifunktionshandschuh Char-les.
Hier noch mal zur Erinnerung: So sah Atomic Heart in den Trailern aus:
Welche Versionen haben wir getestet?
Für unseren Test zu Atomic Heart bekamen wir sowohl Versionen für die Current Gen (PS5, Xbox Series X/S) als auch die Last Gen (PS4, Xbox One). Dieser Test basiert hauptsächlich auf den Eindrücken der Xbox Series X-Version, die wir für unser Review durchgespielt haben. Kollege Chris hat sich darüber hinaus auch die PS4-Version angeschaut, eine Zusammenfassung der wichtigsten Punkte findet ihr weiter unten im Test.
Die perfekte Utopie
Und holla, ist das mal ein imposanter Auftakt! Die schwebende Stadt Tschelomei ist anlässlich der anstehenden Einführung des neuronalen Netzwerks "Kollektiv 2.0" festlich geschmückt, in den Straßen und Gassen ist es geschäftig und wuselig. Überall gibt es etwas zu entdecken, hier ein jonglierender Roboter, dort ein freundlicher Eisverkäufer – der uns sogar eines überreicht –, ja sogar eine ganze Roboterparade marschiert vorbei.
Der Sog dieser faszinierend eingefangenen Utopie packt uns. Staunend laufen wir durch die Kulisse und sind fast schon ein wenig euphorisch. Das ist ja wie in den Trailern! Wenn das jetzt so bleibt, kann ja nichts mehr schiefgehen.
Das Doofe ist: Atomic Heart bleibt nicht so. Sondern stürzt nach diesem fulminanten Prolog zusammen mit P-3 erst einmal ordentlich ab. Denn von Tschelomei geht es per Flugauto ins riesige Forschungsareal 3826, damit unser Allzweckhandschuh ein Upgrade bekommt. Und wenig überraschend geht bei diesem Trip einiges schief.
Die vormals friedlichen Roboter der Anlage sind Amok gelaufen, haben große Teile des Personals getötet und jetzt auch uns auf dem Kieker. Nach dem Abschuss unseres fliegenden Vehikels schließen sich hinter uns die Türen des Wawilow-Komplexes, der ersten Station der Atomic Heart-Reise, in der wir jetzt aufklären müssen, wie es zu dieser Robo-Randale kommen konnte.
Ist Atomic Heart russische Propaganda? Nein, ist es nicht.
Im Vorfeld der Veröffentlichung von Atomic Art wurden vor allem aufgrund der Herkunft großer Teile des entwickelnden Studios Befürchtungen laut, dass es im Spiel problematische politische Ansichten im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine eingebaut sein könnten.
Diese Befürchtungen können wir nach Abschluss der Story nicht bestätigen. Uns ist beim Durchspielen von Atomic Heart nichts aufgefallen, was in diese Richtung ausgelegt werden könnte, keine versteckten politischen Botschaften, keine Pro-Putin-Kommentare.
Ja, hier werden die Sowjetunion und ihr Fortschritt zu einem gewissen Maße glorifiziert, allerdings fällt diese Utopie im Verlauf des Spiels auch ein wenig in sich zusammen und scheitert also – BioShock lässt grüßen. Darüber hinaus ist es eine fiktive, alternative und darüber hinaus auch kommunistische Sowjetunion, die mit dem vom Kapitalismus geprägten modernen Russland nicht viel zu tun hat.
Von 100 auf 10 und dann wieder auf 70
Statt durch eine grafisch opulente Schwebestadt kämpfen wir uns in den ersten Spielstunden also durch unspektakuläre graue Korridore und Hallen. Und das sorgt ebenso wenig für Begeisterung wie das Kampfsystem. Denn auch wenn Atomic Heart ein Shooter ist – dazu gleich mehr – erwehren wir uns der ersten angreifenden Feinden zunächst mit einer hastig aufgeklaubten Axt.
Und das gerät zu einem stumpfen Ausweichen und Draufprügeln. Es fehlt ein Lock-On-System, richtig gut fühlen sich die Kämpfe zunächst nicht an, vor allem wenn mehrere der humanoiden Karate-Roboter auf uns zustürmen.
Das wird aber schon bald besser, vor allem dank Char-les. Denn mithilfe dessen züngelnder Käbelchen fischen wir auf Knopfdruck allerlei Baumaterial und Loot aus herumstehenden Kisten, Schubladen oder Schränken. Das kann dann wiederum an den notgeilen – ja, ihr habt richtig gelesen – Verkaufs- und Upgrade-Automaten in neue Waffen oder Fähigkeiten für den Handschuh investiert werden.
Der äußerst praktische Schockangriff beispielsweise verschießt einen Elektrobolzen, der Gegner kurzzeitig lähmt, außerdem kann Char-les ganze Feindgruppierungen mit dem entsprechenden Skill in die Luft hieven oder mit Polymerschleim überziehen, der dann wiederum entzündet oder gefrostet werden kann.
Und wie bei Talentbäumen üblich, können natürlich alle Fähigkeiten teils in mehreren Stufen verbessert werden. Das ist ziemlich motivierend, weil jedes Upgrade auf seine Weise sinnvoll ist und sich direkt bemerkbar macht. Schön zudem: Talentbäume können ohne Verlust neu geskillt werden, so lassen sich schon recht früh alle Fähigkeiten mal ausprobieren.
Sobald der Motor dieser Kombination aus Waffen und Handschuhfähigkeiten erst mal in Gang gekommen ist, machen die Kämpfe in Atomic Heart spürbar mehr Spaß. Neben einigen Nahkampfkloppern gibt es auch diverse Projektilknarren und Elektroballermänner, insgesamt sind es zwölf Waffen im Spiel. Es verschafft eine enorme Befriedigung, die angreifenden Robos mit den immer mächtiger werdenden Attacken im wahrsten Sinne des Wortes in ihre Einzelteile zu zerlegen.
An das offensichtliche Vorbild Bioshock kommt das Kampfsystem aber nicht heran, dafür bleiben nämlich vor allem die Nahkämpfe zu hakelig und auch die Knarren haben nicht so viel Wumms wie in anderen Genrevertretern. Generell ist das Gunplay eher gehobener Durchschnitt.
Viele, viele böse Robos
Die Gegnerpalette von Atomic Heart hat da erfreulicherweise mehr zu bieten und ist ziemlich abwechslungsreich. Neben den klassischen humanoiden und an Crash Test Dummies erinnernden Robotern (übrigens fesch mit kleinem Schnurrbart) gibt es auch kleinere Modelle mit Sägeblättern, fliegende Kapseldrohnen in unterschiedlichen Ausführungen und Bewaffnungen und sogar organische Feinde, die mit ihren auseinandergeklappten Köpfen auch in The Last of Us auftauchen könnten.
Die Handvoll Bosskämpfe wie etwa das Duell gegen die blitzschnelle Metallkugel "Igelchen" gehören zu den Highlights des Spiels, denn hier fährt das Spiel richtig dicke Roboter-Oschis auf. Unschön ist dagegen, dass ein anderer Miniboss im Spiel geradezu lächerlich oft recycled wird, wir haben bei unserem Durchgang ganze sechs Auftritte gezählt.
Schon auf dem normalen der drei Schwierigkeitsgrade empfanden wir Atomic Heart übrigens überraschend herausfordernd, auch wenn den meisten Feinden offenbar die Intelligenzchips durchgebrannt sind, denn wirklich clever sind sie nicht. Trotzdem ist das Skillen der Fähigkeiten und Upgraden der Waffen gerade im späteren Verlauf tatsächlich Pflicht und keine Kür.
In unfaire Gefilde driftet das Ganze aber nicht ab, im Gegenteil. Automatische und manuelle Speicherpunkte gibt es mehr als genug, außerdem lässt sich der Schwierigkeitsgrad jederzeit anpassen.
Eine Open World in fetten Anführungszeichen
Ein Schlagwort, das immer wieder im Zusammenhang mit Atomic Heart fällt, ist "Open World". Dieser Begriff weckt allerdings Erwartungen, die das fertige Spiel nicht annähernd halten kann. Ja, Atomic Heart entlässt uns nach dem ziemlich in die Länge gezogenen Wawilow-Komplex in eine recht frei erkundbare Oberwelt, die allerdings weder besonders groß noch wirklich interessant ist oder optische Highlights bietet.
Vielmehr ist sie das verbindende Element zwischen den größer angelegten Hauptmissionen, die allesamt in geschlossenen Gebäudekomplexen stattfinden, ähnlich wie in Halo Infinite. So entsteht auch ein ziemliches Ungleichgewicht von Hauptmissionen und "Open World". Erstere ziehen sich auch wegen der öden Aufgabenstellungen enorm in die Länge, in zweiterer verbringen wir dagegen deutlich weniger Zeit.
Der Grund dafür ist simpel: Abseits von den überall verteilten Loot-Kisten und Schränken gibt es in der Spielwelt nichts zu tun. Da mögen manche jetzt ausrufen: "Gottseidank, keine vollgeballerte Karte!", aber Atomic Heart bietet wirklich keinerlei Anreize, aufkommende Erkundungslust zu befriedigen. Na gut, bis auf eine Ausnahme.
Und die gefällt uns ausnehmend gut. Denn in der Spielwelt sind insgesamt acht unterirdische Teststationen (sogenannte Polygone) verteilt, deren Eingänge allerdings erst einmal gefunden und über Sicherheitskameras geöffnet werden müssen. Jede Teststation schickt uns Portal-mäßig durch einen Parcours mit Rätselräumen. Wir müssen beispielsweise Plattformen drehen, die Polarität von riesigen Magneten ändern oder Kletterwände durch die Gegend fahren.
Das ist nie trivial, aber auch nie überfordernd und ein angenehmer Zeitvertreib, zumal uns das Spiel beim Abschluss mit drei glänzenden Truhen belohnt, die wertvolle Upgrade-Baupläne für unsere Waffen enthalten. Auch in anderen Momenten zeigt sich Atomic Heart herrlich verspielt und detailverliebt, etwa bei den Türschloss-Minispielen. Hier müssen beispielsweise Knöpfe im richtigen Moment gedrückt oder Farbpunkte korrekt angeordnet werden.
Bugs und Probleme
Während unserer Testphase stolperten wir in Atomic Heart auch über einige Bugs. Beispielsweise waren neu ausgerüstete Waffen teilweise erst nach einem Neuladen des aktuellen Spielstands im Inventar, es gab vereinzelte Sound-Aussetzer und das ein oder andere Feststecken in der Umgebung, die ebenfalls nur durch ein Neuladen behoben werden konnte. Gravierende Auswirkungen auf den Spielspaß hatte das zwar nicht, nervig waren diese Bugs aber dennoch. Wir hoffen auf einen schnellen Fix per Patch.
Wolfenstein Light
Vielleicht seid ihr vorhin über das Wörtchen "notgeil" gestolpert und das zeigt schon, wie ernst sich Atomic Heart an vielen Stellen nimmt. Es wirkt ein wenig wie ein "Wolfenstein Light". Der Humor beschränkt sich nämlich nicht nur auf den lüsternen Automaten, sondern zieht sich beispielsweise auch durch viele der findbaren Textlogs im Spiel und natürlich auch durch viele – übrigens sehr gute, deutsch vertonte – Dialoge zwischen Char-les und Sergej.
Unser Charakter ist nicht sonderlich sympathisch, hat wenig Geduld und schimpft wie ein Rohrspatz. Das ist anfangs noch ganz witzig, sorgt später aber eher für hochgezogene Augenbrauen, auch wenn dieses Verhalten am Ende des Spiels recht schlüssig erklärt wird.
Von der Geschichte selbst solltet ihr aber nicht allzu viel erwarten. Atomic Heart liefert Standard-Story-Kost auf B-Movie-Niveau mit netten humorigen Elementen, das passt auch zu Setting und Inszenierung. Wer eins und eins zusammenzählt, wird schon recht schnell darauf kommen, was es mit dem Roboter-Amoklauf auf sich hat und wer dahinterstecken könnte.
Der Plot bietet keine Überraschungen, dafür aber einige Logiklücken und bleibt stets vorhersehbar. Dennoch bringt Atomic Heart seine Geschichte am Ende zu einem guten Abschluss und erklärt nebenbei auch noch, warum es so heißt, wie es eben heißt.
Und bis ihr den Abspann seht, dauert es seine Zeit. Wir haben auf unserem Testdurchgang die Hälfte der optionalen Teststationen durchlaufen und in Summe etwa 20 Stunden bis zum Ende gebraucht. Sicher lässt sich noch mehr Zeit im Spiel verbringen, etwa wenn man alle Textlogs liest oder alle sprechenden Leichen finden will, die dank ihres noch funktionierend Neuroimplantats teils kuriose Dinge von sich geben. Notwendig ist das alles aber nicht.
Viele Inspirationen, aber irgendetwas fehlt
Bioshock, Portal, Wolfenstein: Ihr habt vielleicht gemerkt, dass in diesem Test bislang die Namen von diversen anderen Spielen gefallen sind, von denen sich Atomic Heart ganz offensichtlich hat inspirieren lassen. Es gibt auch noch andere, das Inventar erinnert mit seinem Kästchensystem beispielsweise frappierend an Resident Evil.
Aber so schön diese Inspirationen auch sind und so gut sie teilweise für das Spiel adaptiert wurden, fehlt uns abseits des wirklich tollen Settings gerade beim Gameplay etwas, das Atomic Heart einzigartig und unverwechselbar macht. Das mag für viele kein wirklicher Kritikpunkt sein, aber trotzdem werden wir das Gefühl nicht los, dass in vielen Punkten mit etwas mehr eigener DNA noch ein wenig mehr drin gewesen wäre.
Und technisch? Da macht Atomic Heart für uns etwas überraschend eine solide, aber nicht überragende Figur. Nichts zu diskutieren gibt es in jedem Fall über den Artstyle, denn der ist ein echter Hammer. Wie Mundfish die Roboter-Utopie inszeniert und sie von den Sowjet-Bauten über Inneneinrichtungen und natürlich das Design der Blechbüchsen durchzieht, macht den Titel allein schon sehenswert.
Hörenswert übrigens auch, denn es gibt einen wirklich hervorragenden Lizenz-Soundtrack, der neben russischen auch einige klassische und sogar moderne Tracks beinhaltet – das Spiel liefert sogar eine Erklärung, warum die in den 50er-Jahren überhaupt aus den Radios knistern können.
Wie schlägt sich die PS4-Version von Atomic Heart?
Auf Sonys Last Gen-Konsole erreicht Atomic Heart häufig das angepeilte Ziel von 30 fps, regelmäßig beobachteten wir aber auch Einbrüche darunter. Etwa dann, wenn wir länger in einem größeren Gebiet unterwegs waren oder im Hintergrund neue Areale geladen wurden. Bei der Auflösung zählten wir einen Bereich von 864p bis 1080p, genau bestimmen ließ sie sich aber nicht, da Atomic Heart über eine deutliche Unschärfe bei Kameradrehungen verfügt und massiv unter Geistererscheinungen (sogenanntes Ghosting) leidet. Insbesondere Charaktere, Feinde und dünne Objekte wie Seile und Ketten ziehen sichtbare Schlieren hinter sich her.
Außerdem bemerkten wir im Vergleich zur Current Gen schlechter gefilterte und teils verwaschene Texturen, niedrig aufgelöste Reflexionen und unpräzise Schattenwürfe. Atomic Heart bietet auf der PS4 also eine insgesamt durchwachsene Technik. Einige Effekte und die detailreiche Architektur der Umgebung wissen absolut zu gefallen, andauernde Ruckler, die deutliche Reduzierung der Grafikdetails, eine schwache Sound-Kulisse und störende Bildartefakte vermiesten uns jedoch immer wieder den Spielspaß. Wer also die Wahl hat, sollte unbedingt zur Current Gen-Version greifen.
Die beeindruckende Beleuchtung aus den Speichelfluss anregenden Trailern können die PS5- und Xbox Series X/S-Versionen allerdings nicht bieten, was die gesamte Optik etwas flacher wirken lässt, insbesondere in den offenen Arealen sieht das Spiel trotz netter Details wie herumschwebender Maschinen am Himmel und Giganto-Statuen in der Ferne ziemlich trist aus.
Seine bis auf wenige Ausnahmen soliden 60 fps erkauft sich Atomic Heart zudem mit ein paar Tricksereien. Die Auflösung wird gerade in den offenen Bereichen dynamisch angepasst und manche Animationen laufen in einer deutlich niedrigeren Framerate, was stellenweise unfreiwillig komisch wirkt, wenn etwa Gabelstapler-Robos zuckelnd um Regale kurven.