Was haben Aloy, Nathan Drake und Lara Croft gemeinsam? Ich sag's euch: Sie sind alle durchweg sympathische Charaktere und gehören in der Redaktion zu den beliebtesten Protagonist*innen der Videospielwelt. Nun will ich hier nicht über die Geschmäcker meiner Kolleginnen und Kollegen herziehen, mir geht es tatsächlich um ersteres: Müssen spannende Hauptfiguren denn wirklich immer nett und freundlich sein?
Nein, müssen sie nicht, denn die Perspektive eines unsympathischen Arschlochs einzunehmen kann eine Figur erst so richtig spannend machen. Ganz besonders dann, wenn ich durch Gameplay gezwungen bin, ihre Perspektive einzunehmen. Und ich erkläre euch ganz genau, warum das so ist.
Sympathie ist langweilig
Jemand ist sympathisch, wenn seine oder ihre Ansichten mit unseren eigenen Moral-Vorstellungen übereinstimmen. Handelt, spricht und entscheidet sich eine Figur so, wie wir das gut finden, wirkt sie nett (in sehr simpler Kurzfassung natürlich). Gleichzeitig können wir uns leichter in einen sympathischen Charakter hineinfinden und die Immersion wird gestärkt. Wir leiden oder lachen mit und das ist natürlich grundsätzlich erstmal nichts schlechtes.
Aloy ist ein gutes Beispiel. Ihr Dorf und die gesamte Menschheit ist bedroht: Natürlich hilft sie. Sie reagiert nicht begeistert auf jene, die sie als Aussätzige abfällig behandeln: Logisch. Sie will herausfinden, wer ihre Eltern waren: Klar, wer würde das nicht wissen wollen.
Aloy bietet wenig Angriffsfläche um ihr Verhalten oder ihre Ansichten zu kritisieren. Das sorgt dafür, dass wir leicht wie Aloy fühlen können und selbst wissen wollen, was es denn nun mit ihrer Herkunft und den Maschinenwesen auf sich hat.
Auf der anderen Seite sorgt das aber auch dafür, dass ich über sie als Person keinen Grund habe, weiter nachzudenken oder zu reflektieren. Ihr Verhalten entspricht im Großen und Ganzen meinen idealen Moralvorstellungen und das gibt mir das Gefühl, dass sie eben einfach ein netter Mensch ist - und das war's.
Arschlöcher an die Macht
Unsympathische Figuren eröffnen dagegen ganz neue Möglichkeiten. Nehmen wir doch das aktuell wohl populärste Beispiel: Abby. Ich stelle hier mal die These auf, dass nach ihrer Golfpartie zu Beginn von Last of Us 2 kaum jemand gedacht hat: "Ach guck mal, die ist ja cool! Voll nett." Mir ging es jedenfalls anders. Ich war wütend, sie war offensichtlich die Böse, ihr Verhalten war unentschuldbar. Sie war für mich ein unsympathisches Arschloch. Und Naughty Dog hat es perfekt verstanden genau diese Gefühle zu nutzen, um mich zur Selbstreflektion zu treiben.
Am Ende des Spiels hatte sich das Blatt gedreht: Abby ist zu meiner liebsten The Last of Us-Figur geworden, weil ich gelernt habe sie zu verstehen und ihre Motive nachvollziehen zu können. Verwechselt an dieser Stelle bitte nicht "nachvollziehen" mit "rechtfertigen". Ihre Tat war unnötig, dumm und weiterhin unsympathisch. Aber trotzdem konnte ich sie verstehen.
Dieser Trailer fasst Abbys Story für euch noch einmal zusammen:
Gleichzeitig hat Ellie die entgegengesetzte Entwicklung durchgemacht: Anfangs noch meine Sympathieträgerin, wurde sie für mich immer unsympathischer, teilweise sogar unausstehlich. Doch genau diese Entwicklung war wichtig, denn ihre Vergangenheit und ihr aktuelles Verhalten gaben mir viele Punkte, über die ich nachdenken konnte.
Übrigens findet ihr hier eine Zusammenfassung und Interpretation des Endes von The Last of Us 2, wo wir mehr auf Abbys Beweggründe eingehen:
Wo ist sie zu weit gegangen? An welcher Stelle genau hat sie meine eigenen Moralvorstellungen hinter sich gelassen und vor allem: Wie würde ich mich verhalten? Würde ich mich, genau wie Ellie, von mir selbst entfernen und in einer Extremsituation meinen Emotionen erliegen? Ergibt ihre finale Entscheidung am Strand Sinn? (Für letzteres übrigens hier exklusiv die unbestreitbar richtige Antwort: Ja, tut sie).
Selbst wenn ich nach allem Kopfzerbrechen keine konkreten Antworten auf all diese Fragen finde, sind diese Gedanken und diese Selbstreflektion genau das, was mir bei sympathischen Charakteren fast immer fehlt und was sie langweilig und austauschbar macht. Die Überwindung dieses Kontrasts zwischen Abbys und Ellies Verhalten und meinem inneren Moralkodex, ist denke ich genau das, was man mit "meinen Horizont erweitern" beschreiben kann.
Sympathie ist unnötig
Last of Us 2 spielt damit, mein Empfinden gegenüber Abby und Ellie zu drehen, dabei wäre selbst das nicht einmal notwendig. Dass es auch komplett ohne jede Sympathie geht, zeigt Kane & Lynch von 2008, ein relativ unscheinbarer Deckungsshooter, der spielerisch nicht allzu viel hergibt, was man auch damals nicht schon 100 mal gespielt hatte.
Söldner und Schwerverbrecher Kane ist aber einen näheren Blick wert, denn er ist von der ersten bis zur letzten Minute ein riesen Ekelpaket. Während des gesamten Spiels ist er zu allen anderen misstrauisch, beleidigend und verletzend. Das einzige, was Mitleid auslösen könnte, ist seine Familie.
Die wird durch sein eigenes Verhalten nämlich von Gangstern gefangen genommen, teilweise getötet oder verschleppt. Was in anderen Spielen für Mitgefühl sorgen könnte, mündete hier für mich in Unverständnis. Immerhin kam diese Situation mit Ansage und war nach Kanes Vergangenheit alles andere als schwer vorauszusehen, denn alle wissen, dass ihm nicht zu trauen ist und er über Leichen geht. Wie man in den Wald hineinruft …
Dabei handelt er aber gleichzeitig nicht unbegründet oder blind. Stattdessen folgt er einfach nur Motiven, die ich selbst auf einer persönlichen Ebene oft nicht teilen kann: Gier, eine aggressive Grundhaltung oder Selbstsucht.
Genau hier ist auch der Knackpunkt: Kane wirkt wie ein echter Mensch, der aufgrund seiner schwierigen Vergangenheit zu dem Drecksack verkommen ist, der er eben ist. Er ist keine simple, überzeichnete Karikatur wie z.B. Trevor in GTA 5, kein "einfach nur böser" Sauron und er ist auch kein wirklicher Antiheld, der letztlich doch trotz aller Fehler ein netter Typ ist oder zu einem wird. Kane ist und bleibt bis zum Schluss unsympathisch.
Auch hier gilt: Mich in die Haut von einem Gangster zu stecken, dessen Weltbild und Moral sich so extrem von meinen unterscheiden, aber trotzdem nachvollziehbar sind, gibt mir Material über das ich nachdenken kann und genau das finde ich reizvoll. Die Möglichkeit vielleicht sogar irgendwas lernen zu können von jemanden, von dem man auf den ersten Blick eigentlich gar nichts lernen will, kann eine Figur für mich spannend machen.
Und was lernen wir jetzt daraus?
Sind sympathische Protagonist*innen deswegen schlecht? Nein, natürlich nicht. Bei Horizon Zero Dawn kann die oben beschriebene Gedankendreherei immerhin auch ein Hindernis sein, das mich von der spannenden Spielwelt und ihrer Geschichte ablenkt. Dabei ist die Welt und ihre Lore genau das, woraus Horizon seine größten Stärken zieht. Eine streitbare Aloy wäre vielleicht sogar störend für das spaßige Erlebnis und den neugierigen Entdeckerdrang, den ihr Abenteuer vermitteln soll.
Unsympathische Arschlöcher als spielbare Hauptfiguren haben es sicher schwerer Fans zu finden, sind mir aber trotzdem noch zu selten, denn tatsächlich wird es mit mir bekannten Beispielen abseits von Last of Us 2 und Kane & Lynch schnell eng. Dabei ist es ein so spannender Weg, mal über den Tellerrand der eigenen Gedanken blicken zu können, wenn es richtig umgesetzt ist. Nicht jedes Arschloch bietet automatisch dieses Potential. Die (Hintergrund-)Geschichte muss entsprechend ausgearbeitet sein und nicht jedes Autoren-Team ist so talentiert wie das von Naughty Dog. Trotzdem ist es eine gute Möglichkeit, mich an Figuren zu fesseln, also: Gerne mehr davon.
Dieser Artikel ist Teil unserer Held*innen-Themenwoche. Alle Artikel dazu findet ihr in unserer Übersicht.
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