In der Quest von Afterlife-Barkeeperin Claire fahren wir mit ihr in illegalen Straßenrennen und können auf der Rückseite ihres Trucks die aufgemalte Transgender-Pride-Flagge sehen. Dessen Bedeutung erfahren wir vor dem finalen Rennen, als Claire in einem Nebensatz erwähnt, dass sie sich einer Geschlechtsangleichung unterzogen hat. Frauen wie Claire gibt es mindestens seit Jahrhunderten, auch wenn sie regelmäßig als "neuartig" bezeichnet werden. In Videospielen sind sie es leider immer noch.
Neben der allgemeinen Inklusion einer Minderheit spricht Cyberpunk 2077 damit ein Thema an, das sich im Cyberpunk-Genre eigentlich pudelwohl fühlen sollte. Denn auch wenn die Zukunft eines Cyberpunk-Settings dystopisch ist, so eröffnet es durch seinen Schwerpunkt auf Körpermodifikation die Diskussion um die Trennung zwischen Geist und Körper, die schon heute so relevant ist wie nie zuvor.
Lena Maximilian Siess
@GescheitGespiel
Lena will natürlich immer noch ihren Cyber-Arm, wäre aber auch mit guter trans-Repräsentation in Spielen zufrieden. Auf ihrem YouTube Kanal Gescheit Gespielt untersucht sie Titel wie Gothic, Mass Effect oder Kingdom Come: Deliverance auf ihre menschlichen Aspekte. Und auf Twitter gibt es manchmal Witze. Manchmal.
Einiges richtig gemacht
CD Projekt Red scheint korrekte trans Repräsentation ernst nehmen zu wollen, denn mit Claire zeichnen sie zwar eine binäre trans Frau, also eine Person, die deutlich im binären Geschlechtssystem ("männlich oder weiblich, nichts dazwischen oder außerhalb") einzuordnen ist, aber diese wird ohne die üblichen Fettnäpfchen dargestellt.
Man erfährt beispielsweise nicht wie sie vor ihrer Transition hieß und ihr sogenannter "Deadname" wird auch nicht gegen sie verwendet, wie z.B. bei einem wichtigen Charakter in The Last of Us Part II. Auch wird aus ihrer Identität kein großer Hehl gemacht, wie in Dragon Age: Inquisition, das der Spieler*in die Option gibt, die Identität eines trans Mannes in Frage zu stellen. Ganz zu Schweigen eine trans Figur sensationalisiert, wie im zweiten Akt von Danganronpa: Trigger Happy Havoc.
Auch engagierte CD Projekt Red für die englische Vertonung die Schauspielerin Maddie Taylor und hatte damit eine authentische trans Frau als Stimme für Claire. Wie neu diese Gewässer für die Industrie ist, zeigt sich gut daran, dass Claire in der deutschen Vertonung von Dirk Petrick gesprochen wird, also einem cisgender Mann.
Hormontherapie macht bei trans Frauen den Stimmbruch nicht rückgängig, daher ergibt es Sinn, in Ermangelung einer entsprechenden Sprecherin einen männlichen Sprecher anzuweisen, wie eine trans Frau zu sprechen.
Und dann sehr viel Fragwürdiges
Da die meisten Menschen selbst keine (geouteten) trans Personen kennen, stammen ihre Eindrücke aus der Popkultur. Konkret bedeutet das erfahrungsgemäß: Angehörige von Minderheiten wie nicht-binären und trans Menschen in Filmen, Büchern, Spielen, etc. ihrer Menschlichkeit beraubt zu sehen. Als lügende, kaputte, manipulative Wesen, wie in den Filmen "Psycho" (1960) und "Das Schweigen der Lämmer" (1991), oder in J.K. Rowlings letztem Buch "Böses Blut" (2020) - Beispiele sind schnell gefunden.
Sie spiegeln eine fehlgeleitete, jedoch weit verbreitete Befürchtung wieder, laut der trans Frauen eigentlich cis Männer sind, die andere bloß in falsche Sicherheit wiegen wollen, bevor sie gewalttätig werden. Die legitime Angst vor chauvinistischen Männern wird damit auf eine Minderheit projiziert, um sie zum Monster zu machen. Diese Geschichten reflektieren die realen Erfahrungen dieser Menschengruppen zwar in keinster Weise, formen jedoch das kollektive Bild von ihnen. Das macht positive Repräsentation als Gegengewicht zu dieser verzogenen Darstellung so wichtig.
Leider sieht es abseits von Claire in Cyberpunk 2077 eher dünn aus, wenn es um die (positive) Darstellung von Personen geht, die sich nicht klar in eine Gender-Schublade stecken lassen wollen. Ein Charakter, der diesbezüglich noch heraussticht ist Fingers, der schleimige Ripperdoc, der aus einer Seitengasse heraus an Sexarbeiter*innen werkelt, die sich andere Ärzt*innen nicht leisten können. Sein Auftreten wirkt gendernonkonform, eine bewusste Ablehnung der strikten Vorstellung von Geschlechtsidentität als rein männlich oder weiblich. So trägt er u.a. sexualisierende Kleidung, die man eher an weiblichen Körpern erwarten würde, eine Menge Schmuck, sowie überlange rote Fingernägel an der Hand, mit der er in seiner Praxis raucht.
Fingers wird als abscheulicher Mann dargestellt, der verzweifelte Sexarbeiter*innen ausnutzt. Einerseits durch seine Handlungen, ihren Konsequenzen sowie auch die angewiderte Reaktion anderer Figuren. In visuellen Medien werden solche Personen außerdem gerne noch abstoßend gezeigt. Hier hat sich CD Projekt entschieden Geschlechtsnonkonformität als Sinnbild für Fingers Perversion zu benutzen. Ein Stigma, das nicht-binären Menschen mit Werken wie "Psycho" auferlegt wurde und nun durch Cyberpunk 2077 weiter bestätigt wird.
Mix It Up!
Über Claire und Fingers hinaus wird trans Repräsentation zur Randerscheinung. Dazu zählt die umstrittene Werbung des in-game Energy Drinks "Chromanticore", die eine feminine Person mit einer deutlich erkennbaren Silhouette eines Penises zeigt. Wir sollen sie als Zeichen einer Welt sehen, in der trans Körper als so normal angesehen werden, dass Großkonzerne ihre Genitalien zum Verkauf von Getränken benutzen können. Was vielleicht erst einmal einen positiven Klang hat, läuft in die selbe Kritik, die sich auch sexistische Werbung schon seit Jahren anhören lassen muss.
Das Subjekt wird durch die Reduzierung auf ihren Körper entmenschlicht - und das nur um ein Produkt zu verkaufen.
Sehen wir uns weiter um, wird glasklar: fast jede Werbung in Night City ist sexualisiert, fetischisiert oder menschenverachtend. Die Chromanticore Werbung ist damit in keinster Weise allein, sondern Teil eines Themas, das Cyberpunk 2077 deutlich als Bestandteil seiner Welt sieht: Der Erniedrigung von Menschen aus nichts anderem, als Profitgier der MegaCorps.
In unserer Welt benutzte CD Projekt Red das Motiv des Chromanticore Models in Preview-Screenshots, bei Presse-Events und hofierte es als Gewinner eines offiziellen Cosplay-Wettbewerbs noch einmal extra. Hier greift das Argument, dass trans Körper bereits normalisiert sind, nicht. Der fetischisierende Aspekt des "ungewöhnlichen Körpers" war Teil der Marketing-Strategie des Entwicklers, wodurch er sich besonders von trans Personen auf Social Media Kritik ausgesetzt sah.
Halbgarer Charakter Editor
Aber was ist eigentlich, wenn wir selbst einen trans Charakter spielen wollen? Im August 2019 versprach CD Projekt Red bereits, dass sich so viele Spieler wie möglich mit dem Editor und dem Spiel wohl fühlen sollen, speziell auf die Gender-Optionen bezogen.
Die verfügbaren Features sind zum aktuellen Zeitpunkt selbst für cis Figuren leider wesentlich restriktiver, als erwartet. Auch merkten wir bereits an, dass sich nichts davon nach Beginn des Spiels anpassen lässt.
Es stimmt, dass Spieler*innen, die eine trans Figur erschaffen wollen, die Genitalien unabhängig vom Rest der Figur einstellen können. Jedoch macht keine der Optionen im Spielverlauf einen Unterschied. Viel wichtiger wäre also die Möglichkeit V eine Geschlechtsidentität unabhängig von seinen*ihren Körpermerkmalen zu geben. Das können wir auch - fast.
Frisuren und Einstellungen für die Brust sind vom gewählten Körpertyp abhängig, die das Spiel nur in einer stark maskulinen oder femininen Version anbietet. Auch ist es nicht möglich, beim femininen Körperbau die Brüste zu entfernen, wie es manche trans Männer und nicht-binären Menschen machen.
Anstatt Vs Geschlechtsidentität als eigene Auswahl anzubieten, fällt diese im Editor mit der Wahl zwischen einer femininen und maskulinen Stimme zusammen. Zwar versuchen manche trans Menschen ihre Stimme an ihre Identität anzupassen, aber zum einen lässt sich das nicht generalisieren und zum anderen klingen trans Menschen oft anders als cis Menschen.
Eine nicht-binäre V mit femininer Stimme und maskulinen Pronomen (oder anders herum) ist damit auch ausgeschlossen. Trans Personen ohne jegliche Therapie, wie mich, die Autorin dieses Artikels, sind überhaupt nicht darstellbar.
Sexuelle Verwirrung statt sexuelle Orientierung
Wir könnten nun meinen, dass mit der Stimme effektiv die Identität von V festgelegt wird. Wenn es um die Partner*innen geht, mit denen er*sie im Spiel eine Beziehung eingehen kann, scheint Cyberpunk 2077 jedoch eine andere Vorstellung zu haben.
Für die Figuren River und Panam ist tatsächlich nur der gewählte Körpertyp entscheidend. Die Stimme - und damit die Identität, sowie die Pronomen für V - sind tatsächlich egal und können sowohl maskulin als auch feminin sein. Panam möchte also nur etwas mit einer breiter gebauten V anfangen, während River die kurvige V voraussetzt, unabhängig vom biologischen Geschlecht oder der Geschlechtsidentität.
Noch seltsamer ist das bei Judy und Kerry, die von den meisten Spieler*innen als homosexuell angesehen werden. Spielen wir eine cis V, ob Mann oder Frau, ist es leicht dem zuzustimmen. Haben wir uns aber für eine trans V, also eine mit unterschiedlichem Körpertyp und Stimme, entschieden, sind die beiden potenziellen Partner*innen keine mehr.
Judy setzt für eine Romanze eine V mit femininer Stimme und femininen Körper voraus - Kerry mit dem maskulinen Optionen genauso. Immerhin sind Genitalien dabei egal - sie wirken sich auf keinen Teil des Spiels aus.
CD Projekt Reds Entscheidung damit zu erklären, dass Judy eben lesbisch und Kerry halt schwul sei, konfrontiert Spieler*innen mit etwas, womit trans Menschen schon immer zu kämpfen hatten: Der Unterstellung, sie seien nicht Mann oder Frau "genug", um dieselben Möglichkeiten wie cis-Menschen zu haben.
Es gibt damit nur einen validen Weg eine trans V zu erstellen und dieser schränkt Spieler*innen unerwartet ein. Sie können nur eine mögliche romantische Beziehung eingehen, während cis Figuren zwei haben. Welche das sind, ist noch dazu unabhängig von V's Geschlechtsidentität, was das Konzept von sexueller Orientierung ad absurdum führt.
Die zwei Gesichter
Cyberpunk 2077 will auch dieser Facette seines Settings gerecht werden, stolpert dabei leider über alte Stereotypen und erfindet sogar neue Probleme. So hat das Spiel mit Claire eine deutlich positive Repräsentation einer binären trans Frau. Dennoch trifft es konsequent Entscheidungen, die nicht-binäre Menschen ausschließen oder ignorieren und trans Personen nicht die gleichen Möglichkeiten zusprechen wie cis Menschen.
Das hätte leicht mit ein wenig mehr Voraussicht und Vorsicht im Design des Charakter-Editors und der Partner*innen vermieden werden können. Es bleibt zu hoffen, dass CD Projekt Red diese Probleme noch in Form von Patches angeht, die die Auswahl der Geschlechtsidentität von der Stimme entkoppeln, bei den Beziehungen auf die Identität von V achten und den Körpertyp ignorieren.
Bis dahin ist es für trans und nicht-binäre Menschen wie mich unnötig schwer im Spiel genauso Cyberpunk zu sein, wie wir es jetzt schon sind.
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