Zwar lässt der Hype um Lichtstrahlen aus dem Raytracing-Himmel und lebensechte Hauttexturen anderes vermuten, doch Videospiele kommen auch ohne Bild aus. Indie-Entwickler*innen beweisen das seit den frühen frühen 2000er-Jahren mit Titeln wie Dark Destroyer oder Shades of Doom. Sie vermitteln ihre Welten, Figuren und Spielmechaniken ausschließlich via Audio. Schlagzeilen oder gar Awards bleiben den meisten aber verwehrt, oft werden sie schlicht übersehen.
The Vale: Shadow of the Crown ist eine der Ausnahmen. Das Audio-Only-Rollenspiel von Falling Squirrel und Creative Bytes Studios wurde schon 2018 und 2019 prämiert und ein Jahr später beim Xbox Summer Game Fest vorgestellt. Lob von der Fachpresse samt mehrerer Auszeichnungen folgten auf die Veröffentlichung im vergangenen August, unter anderem für die Fortschritte in Sachen Zugänglichkeit. So werden auch Menschen auf The Vale aufmerksam, die selten spielen.
Gaming ohne Grenzen
Das Interview mit Casey Kreer wurde von Gaming ohne Grenzen organisiert. Das Projekt klärt über Barrieren in digitalen Spielen auf, möchte Räume für inklusive Begegnungen schaffen und Medienkompetenz fördern.
Der Ruf eilt The Vale voraus
„Nach den positiven Stimmen waren meine Erwartungen hoch und ich dachte, das ist eine gute Möglichkeit, etwas anderes zu erleben“, erinnert sich Casey Kreer. Wenn die 21-jährige Medieninformatikstudentin Zeit mit Videospielen verbringt, dann meistens mit Minecraft. Das liege am entspannenden Gameplay, aber auch den Accessibility-Optionen, wie veränderbare Kontraste oder die automatische Sprungfunktion. Die helfen Kreer, Minecraft überhaupt zu genießen, denn sie hat einen Sehrest von fünf Prozent.
Für den Einstieg in The Vale ist das keine Hürde. Nur über Stimmen und plätschernden Regen, zirpende Grillen und klirrende Schwerter erleben wir die Geschichte der blinden Prinzessin Alex, die einen Überfall während einer Fahrt zum Rand ihres Landes nur knapp überlebt. Was folgt, ist ein 500 Meilen langer Weg durch die namensgebende Vale, um zu ihrer Heimatstadt und ihrem Bruder zurückzukehren. Bis auf verschiedenfarbige Partikeleffekte bleibt der Bildschirm dabei schwarz.
So kämpft man mit den Ohren
Mit diesem dramatischen Intro entlässt uns The Vale in seine Welt. Auf den Schock folgen die ersten von zahlreichen Rückblenden, angefangen mit Erinnerungen an die Kampfausbildung durch ihren Onkel. Eine notwendige Lektion für den Start, denn Alex muss sich bald gegen Wölfe, Banditen oder feindliche Soldaten wehren.
Statt bloß Quick-Time-Events zu bestehen, müssen wir die Richtung gegnerischer Angriffe heraushören und die Analog Sticks für die Waffen- und Schildhand entsprechend neigen. Zusätzliche Fähigkeiten liegen auf den Triggern. Ob Schwerthiebe oder Bogenschüsse, Blocken oder Parieren, Aggression oder Stealth: „Die Komplexität dahinter ist erstaunlich hoch“, so Kreer, „Das System und später neue Dinge wie Magie zu lernen, war eine sehr angenehme Progression.“
Wie sich The Vale spielt, könnt ihr im folgenden Trailer rausfinden:
Die einleitenden Rückblenden geben zudem einen Vorgeschmack auf einen von Kreers Lieblingsaspekten. Die englischsprachigen Sprecher*innen haben die NPCs in zahlreichen Akzenten vertont. „Das erzeugt das Gefühl, viele verschiedene Orte zu besuchen“, schwärmt sie. „Gerade für eine Geschichte wie The Vale, die vom Reisen handelt, ist das wichtig.“
Das Ärgernis Dörfer
Die Stimmen lassen wohl keine Wünsche offen, ihre Zeilen beizeiten schon. Das gilt hauptsächlich für Dialoge in den Dörfern, die Alex auf ihrer Reise durchquert. Kreer kritisiert: “Wenn man dort nur eine Minute stillsteht, hat man dieselben Sätze vier, fünf Mal gehört.“ In der Hauptstory sei ihr das seltener aufgefallen, bei den Erkundungstouren und Nebenaufgaben dafür umso deutlicher. Das ist doppelt ärgerlich, weil sie uns mit Hintergrundinformationen zu Alex und der Spielwelt samt ihrer düsteren Geheimnisse belohnen.
Überhaupt fällt Kreer das Erkunden der Dörfer schwer. Als Wegweiser dienen zwar Umgebungsgeräusche wie stählernes Gehämmer, das auf eine Schmiede hindeutet, oder Alex’ Kommentare, wenn sie den Rand eines Gebiets erreicht. „Ich kann aber nirgendwo zur Orientierung gegenlaufen“, kritisiert Kreer. „Alles ist um dich herum angeordnet. Wie genau, kann ich jedoch nicht sagen, weil die Gebäude keinen Schall zurückwerfen. In der Realität kann man sich darauf ein bisschen verlassen, um Sachen zu lokalisieren.“
Spieler*innen mit Sehbehinderung haben The Vale mitgeformt
The Vale ist nicht nur wegen dem Audio-Fokus ein Ausnahmetitel. Trotz aller Fortschritte in den letzten Jahren sind Protagonist*innen mit Behinderung weiterhin unterrepräsentiert in Spielen – oder schlimmstenfalls fehlrepräsentiert. Kreer freut sich entsprechend darüber, dass Alex’ Blindheit ihren Charakter nicht überschattet. “Es war letztendlich eine Nebensächlichkeit. Man spielt sie, man sieht nichts, doch sie definiert sich nicht darüber. So sollte es ja auch sein.”
Stattdessen zeichnet The Vale das Bild einer autonomen Frau, die notfalls Hilfe erhalten kann. Verfehlen wir etwa ein Ziel mit unserem Bogen, schlägt der Schäfer, unser Begleiter, Korrekturen für den nächsten Schuss vor. “Niemand redet dir aber rein, bevor du eine Sache nicht zumindest versucht hast”, lobt sie.
Dass Alex’ Darstellung, aber auch Großteile der Vertonung gelungen sind, ist Menschen mit Sehbehinderung zu verdanken. Noch vor der ersten Codezeile holte sich Dave Evans, Studio Director bei Falling Squirrel, Rat zu sensibler Sprache und Zugänglichkeit vom blinden Accessibility-Konsultant Martin Courcelles, der damals beim Canadian National Institute for the Blind (CNIB) arbeitete. Die Non-Profit-Organisation unterstützt Menschen mit Sehbehinderung und leistet Aufklärungsarbeit.
Laut Kreer ist das der einzig richtige Schritt: „Es ist schwierig, wenn irgendwo sehbehinderte, blinde oder andere Menschen mit Diskriminierungserfahrung vorkommen, wenn die Autor*innen nicht wissen, wie das wirklich ist.”
Gute Basis mit Verbesserungspotenzial
Daraus wächst eine Kooperation mit dem CNIB, das später Playtesting-Sessions mit Menschen mit Sehbehinderung organisiert und weitere Konsultant*innen für Feedback vermittelt. So zeigt sich die Zugänglichkeit von The Vale auch in den Details.
Sämtliche Menüs wurden vertont, von Menschen statt Text-to-Speech-Stimmen. Drei Schwierigkeitsgrade samt diverser Regler erlauben Spieler*innen, die Erfahrung ihren Bedürfnissen anzupassen. Ganz von Exklusion befreit ist das Spiel dennoch nicht. Personen mit Hörbehinderung werden es momentan kaum spielen können, da Untertitel fehlen.
“Das hätte man durchaus besser machen können”, meint Kreer. “Gemessen an der Arbeit, die offensichtlich ins Sound Design geflossen ist, hätte das wahrscheinlich enormen Mehraufwand bedeutet. Vielleicht muss man da irgendwo Abstriche machen.” Die Accessibility-Expert*innen von Can I Play That? sehen es ähnlich, merken aber an: “Die fehlenden Untertitel helfen mir nur einen Bruchteil des Frusts zu verstehen, den Spieler*innen mit Sehbehinderung fühlen müssen, wenn sie so ziemlich jeden anderen Titel ausprobieren wollen.”
Trotz ihrer Kritik wünscht sich Kreer, künftig mehr Spiele nach dem Vorbild von The Vale zu bekommen. Über mögliche Änderungen denkt sie schon jetzt nach: “Kämpfe haben einen großen Teil im Spiel eingenommen. Als nächstes wären kleinteilige Rätsel schön, oder Gestaltung und Bauen.” Zudem würde sie nach dem Mittelalter-Schauplatz von Alex’ Abenteuer neue Settings begrüßen, etwa im Fantasy-Bereich. „Spontan kann ich mir aber nicht vorstellen, wie das alles intuitiv gehen könnte.“
Vielleicht fällt Falling Squirrel und Creative Bytes Studios ein Ansatz ein. Oder einem größeren Studio, das Audio-Only-Spielen den Weg in den Mainstream eröffnen könnte, für den Indie-Entwickler*innen vor über 20 Jahren die ersten Steine legten.
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