Auf der Suche nach Menschlichkeit
Eine der größten Stärken der Handlung ist die gelungene Ausarbeitung der Charaktere. Im ersten Spiel waren die Protagonisten enigmatisch. Es war schwer, zu ihnen durchzudringen, da sie wenig gesprochen und ihre Gefühle für sich behalten haben. Das ist keine Kritik am ersten Spiel, denn es hat hervorragend zur kryptischen Grundstimmung gepasst.
Doch diesmal ist es für Sebastian eine Reise ins Ich. Zu viele Details seien an dieser Stelle nicht verraten, aber durch eine Verwicklung mehrerer Umstände wird Sebastian mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Das formt ihn als Charakter enorm. In zahlreichen Gesprächen mit anderen Menschen gewinnt er massiv an Kontur.
Seine sarkastische Wortwahl, die Art seiner Körpersprache und Bewegungen, seine Mimik: Sebastian ist exzellent ausgearbeitet, und es ist mir leichtgefallen, mich mit ihm zu identifizieren. Seine Motivation ist diesmal klar umrissen. Aber auch den Nebenfiguren wird viel Aufmerksamkeit geschenkt. Sie sind ebenso überzeugend geschrieben, und bei dem ein oder anderen Charakter habe ich mich sogar dabei erwischt, wie ich ihn ins Herz geschlossen habe.
Das ist bei Horrorspielen selten, denn meistens ist die gesamte Atmosphäre zu kalt für Bindungen. Doch The Evil Within 2 schafft es inmitten all des blutigen Wahnsinns, Menschlichkeit hervorzuheben. Ein Triumph, den ich nicht erwartet habe.
Zu erwarten waren hingegen groteske, bizarre Albtraumwelten. In diesem Punkt enttäuscht das Spiel nicht. Besonders beeindruckt bin ich von den Kreationen rund um den Antagonisten Stefano Valentini, einem Künstler und ehemaligen Kriegsfotografen. Sein letztes Foto zeigt einen Soldaten, den ein Sprengsatz zerfetzt. Dabei verliert Stefano eines seiner Augen, doch das Erlebnis lässt ihn die Schönheit des Todesmoments erkennen.
Seine Worte, nicht meine. Er kann die Welt im STEM nach seinen Vorstellungen formen und lockt Opfer an, um sie für abscheuliche Fotos brutal abzuschlachten. Einen Schnappschuss vom Augenblick des Todes einzufangen ist nur eine Variante. Er zerschneidet auch Körper, um sie zu bizarren Skulpturen zusammenzusetzen. Seine Werke bekomme ich während des Spiels immer und immer wieder zu Gesicht.
Ihnen zu begegnen löst in mir ein seltsames Gefühl zwischen Abscheu und Erstaunen hervor. Mir ist im jedem Fall unwohl in diesen Szenen. Und wenn ein Horrorspiel dies schafft, ist es ein großes Lob. Davon ab bietet The Evil Within 2 noch einige andere Überraschungen, die vom Einfallsreichtum der Entwickler zeugen.
Ewig schlurfen die Untoten
Ein wenig zwiegespalten haben mich allerdings diesmal die Kreaturen zurückgelassen. Die großen Monster, denen man in Bosskämpfen oder besonderen Situationen begegnet, sind erneut äußerst gelungen. Zum Beispiel erschafft Stefano ein seltsames, wie ein Insekt laufendes Wesen namens Obscura. Sie hat eine Kamera und einen Balgen als Kopf.
Der Körper mutet an wie ineinander verwachsene, feminine Körper von Ballerinen, die suggestives Stöhnen von sich geben. Wann immer Obscura mich anstarrt und mit Blitzlicht ein Foto schießt, friert die Zeit um mich herum ein. Auch in der echten Welt auf meiner Couch, denn solche Kreaturen sind echte Höhepunkte, bei denen mir der Atem stockt. Und wie im ersten Spiel sind sie wieder schlau mit der Geschichte verbunden.
Doch zwischen all dem sind auch wieder Zombies. Das Spiel nennt sie erneut "Haunted", und in der Geschichte sind es streng genommen keine wandelnden Toten. Doch effektiv verhalten sie sich so, wie man es aus etlichen anderen Zombiewerken kennt. Sie schleichen herum, essen Leichen und stürmen auf mich zu, sobald sie mich erblicken. Natürlich gibt es auch dicke Zombies, die in meiner Nähe explodieren.
Und ein Äquivalent zum Hexen-Zombie aus Left 4 Dead, das ebenso schrill kreischen kann. Zombies, die in Flammen stehen, gibt es auch. Zombies, Zombies, immer wieder Zombies. Es ist ein wenig enttäuschend, dass der zweite Teil erneut auf solche Standardgegner zurückgreift, obwohl er in allen anderen Aspekten so kreativ ist.
Offene Wunden, offene Welt
Nicht nur durch die klar kommunizierte Geschichte und die nachvollziehbaren Charaktere fühlt sich The Evil Within 2 anders als der Vorgänger an, sondern auch bei der Spielstruktur hat sich das Spiel weiterentwickelt. Über große Teile hinweg öffnen sich Areale und lassen sich frei erforschen. Hauptsächlicher Schauplatz ist eine amerikanische Kleinstadt namens Union.
Warum diese im STEM erschaffen wurde, wird in der Geschichte sinnvoll erklärt. Grob umrissen: Der Zustand der Stadt ist vom Befinden von Sebastians Tochter abhängig. Da sie sich in Gefahr befindet, zerfällt der Ort nach und nach. Das sieht beeindruckend aus, denn die Stadt ist wortwörtlich auseinandergebrochen. Ganze Stadtviertel schweben kopfüber am Himmel, während seltsame Wetterphänomene zu beobachten sind.
Die offenen Bereiche sind nie zu groß, denn auch ohne Karte kann man sich dank markanter Gebäude gut orientieren. Trotzdem gibt es genug zu entdecken. Mülltonnen und stillgelegte Autos lassen sich zum Beispiel nach Ressourcen absuchen. Sebastian kann sogar mit einem beherzten Tritt so manchem Getränkeautomaten das ein oder andere Hilfsmittel entlocken.
Bei seinen optionalen Sammelgegenständen übertreibt das Spiel nicht, sondern bleibt angenehm überschaubar. Auf der Karte sind also nicht wahnsinnige 900 Korok-Samen wie in Zelda: Breath of the Wild zu finden. The Evil Within 2 zeigt Respekt gegenüber meiner investierten Zeit.
Bei der Suche hilft mir ein Gerät, das schlicht Kommunikator genannt wird. Es sieht aus wie ein Funkgerät und kann auf entfernt liegende Audiosignale eingestellt werden, an deren Quellen sich meist Aufgaben oder nützliche Gegenstände befinden. Mit dem Kommunikator lassen sich ebenso Erinnerungen rekonstruieren, wodurch ich in der Lage bin, mehr Hintergründe zur Geschichte zu erfahren.
Angesichts der offenen Welt hatte ich zunächst die Befürchtung, dass der gesamte Bildschirm mit Informationssymbolen zugekleistert wird. Doch in diesem Punkt geben die Entwickler freie Wahl: Interaktionssymbole, Wegpunkte, Lebensenergie oder Warnhinweise - all das lässt sich in den Optionen ausschalten, um ein möglichst cinematisches Erlebnis zu ermöglichen.
Überhaupt ist die Kombination zwischen linearen Abschnitten und offener Welt raffiniert gelöst. Die Gesetze von Zeit und Raum werden im STEM zu bloßen Vorschlägen. Das haben die Entwickler für fließende Übergänge zwischen streng inszenierten Szenen und solchen mit mehr Bewegungsfreiheit genutzt. Zum Beispiel werden die einzelnen Fragmente der Stadt mit einer Art Tunnelsystem verbunden, genannt "Das Mark".
Namentlich und funktionell auf obskure Weise verwandt mit dem Rückenmark. Diese Bereiche wirken geführter und klaustrophobischer als die offene Stadt. Davon völlig losgelöst sind Abschnitte, die ganz tief in das Reich von Psychopathen oder Horrorkreaturen führen. Ich kann mir nie sicher sein, wann und wie diese Gegner auftauchen werden. Manchmal folge ich einer unscheinbaren Nebenmission, um mich plötzlich in einer traumartigen Szene wiederzufinden, die mit meinem Verstand spielt.
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