Was bin ich? Warum existiere ich? Wo will ich hin? Und warum putzt hier offensichtlich nie jemand, obwohl es richtig übel aussieht? Falls euch ein Spiel zumindest auf die ersten drei Fragen ganz klare Antworten liefern muss, werdet ihr mit Scorn vermutlich nicht glücklich werden. Auch ein Horrorspiel oder gar einen brutalen Shooter à la Doom solltet ihr nicht erwarten.
Der Titel ist nämlich vielmehr eine spielbare Liebeserklärung an den schweizer Künstler H.R. Giger (bekannt vor allem für seine biomechanischen Alien-Designs) – oder, um eine zum Spiel passende Bildsprache zu wählen: Scorn wirkt, als wäre es brutal aus den Eingeweiden eines Giger-Kunstwerks herausgerissen und bluttriefend auf euren Monitor geklatscht worden. Die expliziten Motive des Spiels dienen allerdings nicht dem Selbstzweck, sondern fordern euch zum Nachdenken und Interpretieren heraus.
Warnung: Das Spiel enthält Elemente, die durchaus als verstörend empfunden werden können. Unsere Trigger-Warnung enthält allerdings Spoiler zu den Themen des Spiels.
Triggerwarnung: Scorn enthält explizite Gewaltdarstellungen, wie beispielsweise Verstümmelung menschenähnlicher Wesen. Ein großer Fokus des Spiels liegt auf Motiven, die mit Schwangerschaft, Embryos und Geburt zu tun haben.
Schöne eklige Welt
Falls ihr ein Faible für Groteskes habt, ist Scorn ein echter Hingucker. Nachdem sich euer Spielercharakter aus seinem schleimigen „Ei“ gepellt hat, bewegt er sich durch eine bizarre Welt, die wie ein einziger zusammenhängender Organismus wirkt. Sehnige Wände, skelettartige Gänge, zystige oder knorpelige Auswüchse und fleischige Stränge erwecken den Eindruck, dass alles irgendwie verbunden und lebendig ist.
Hier könnt ihr euch unser Test-Video ansehen:
Das gilt insbesondere für die Technologie, die ihr im Spiel verwendet. Dazu gehören beispielsweise Aufzugshebel, in deren gummiartige Bedienelemente der Spielercharakter mit den Fingern schlüpft, oder seine Waffen und Tools, die von Adern und Gewebe durchzogen sind. Das Spiel präsentiert Biomechanik pur – fast bis ins letzte Detail. Nur bei den Gegnern gibt es einen Bruch, auf den wir später näher eingehen. Zuerst müsst ihr jedoch eines wissen:
Scorn ist im Kern ein Rätselspiel und funktioniert als solches richtig gut. Zwar gibt es Shooter-Passagen, aber die meiste Zeit verbringt ihr damit, die Welt zu erkunden und herauszufinden, wie sie funktioniert, um sie durchqueren zu können. Falls ihr nicht gerade einen Masterabschluss in Alientechnologie habt, müsst ihr euch dabei Stück für Stück an die Lösung herantasten. Zwar gibt es ein paar gewohnte Elemente, wie Schieberätsel, die sich logisch herleiten lassen, oft wirkt aber alles fremdartig und muss erst einmal durchschaut werden.
Zimperlich geht es dabei selten zu. Schon ganz am Anfang rammt ihr euch eine Metallvorrichtung in den Arm, um das Bedienpult einer Tür nutzen zu können. Kurze Zeit später versperrt euch ein Tor den Weg, bei dem ihr einen zusätzlichen Arm braucht … und dass das für irgendjemanden unter Umständen kein gutes Ende nehmen könnte, könnt ihr euch vielleicht schon denken.
Technik: Auf der Xbox Series X hatten wir keinerlei größere Bugs, nur wenige kurz anhaltende Framerate-Einbrüche. In der PC-Version hatten wir einen Absturz und einen Bug, der uns am Fortfahren hinderte und dafür sorgte, dass wir einen früheren Speicherstand laden mussten.
Manche Rätsel sind simpel, andere komplex und erstrecken sich über mehrere Ebenen. Ihr müsst dann beispielsweise mit Aufzügen hoch- und runterfahren und Kräne nutzen, um Gondeln in die richtige Position zu bringen. Dabei ist manchmal schon allein die Wegfindung eine Herausforderung, denn so cool die organisch-industrielle Welt auch aussieht, sie ist ein einziges Labyrinth, in dem ein Gang stark dem nächsten ähnelt.
Manchmal stolpern wir unerwartet über What the Fuck-Momente und Highlights, wie wenn uns auf einmal „Sir Riesenschwabbel“ aus seinem gigantischen Hängegesicht anstarrt, streckenweise fühlen sich das Erlebnis und das Herumsuchen aber auch zu gleichförmig an. Und erwartet nicht, dass das Spiel euch in irgendeiner Form an die Hand nimmt. In Scorn seid ihr völlig auf euch alleine gestellt, was sehr zur Immersion im schonungslosen Setting beiträgt, aber auch mal für Frustmomente sorgen kann.
Shooter-Elemente wirken inkonsequent
Während sich die surreale Architektur beim Herumtüfteln wunderbar bestaunen und hinterfragen lässt, wirken die Shooter-Mechaniken aufgesetzt und sogar störend. Erst gegen Ende des zweiten von fünf Akten bekommt ihr überhaupt mal eine Waffe in die gepeinigte Hand, und dann ist es nicht mal eine Knarre. Stattdessen schnappt ihr euch eine Art „Teleskop-Zahnstocher“, den ihr ausfahren könnt, um eure Feinde zu pieksen – wenn genug Heißluft aufgeladen ist. Nach ein bis zwei Angriffen ist erst mal für ein paar Sekunden Pause angesagt. Das ist zwar designtechnisch cool und passend, aber da sich das Zielen träge und unpräzise anfühlt, ist die Waffe ziemlich spaßbefreit.
Später bekommt ihr zwar noch richtige Schusswaffen, aber auch das Gunplay ist alles andere als befriedigend. Nachladen dauert beispielsweise so lange, dass ihr euch in der Zwischenzeit gefühlt einen Kaffee holen – oder im Spiel, umgeben von Gegnern, sehr gut sterben – könnt. Das gilt auch fürs Heilen, das dafür mit seiner Blutinfusion richtig cool aussieht.
Sicherlich ist es gewollt, dass ihr euch durch die Waffen nicht wie Actionheld*innen fühlt, und in gruseligen Spielen wie dem Silent Hill-Franchise trägt das zur bedrohlichen Atmosphäre bei. In Scorn geht die Rechnung jedoch nicht auf, weil die Stimmung befremdlich, aber nicht unheimlich ist und die Kämpfe daher eher nerven. Die unverzeihlichen Rücksetzpunkte, bei denen ihr Cutscenes erneut schauen müsst, verstärken diesen Eindruck.
Auch das unförmig fleischige Gegnerdesign wirkt vor der stimmigen Kulisse etwas uninspiriert. Statt Biomechanik begegnet ihr bis auf eine Ausnahme nur Schwabbelbackenfeinden sowie Würsten mit Beinen, und Monstern, die an Brathähnchen erinnern oder auch Vaginapinguine heißen könnten, falls ihr es extravaganter mögt. Dieser Name ist eine gute Überleitung zum nächsten Punkt.
Kryptische Story gibt euch was zum Knabbern
Scorn ist mit seinen Motiven so subtil wie ein Vorschlaghammer – oder fünf Meter hohe Eierstöcke. Ja, etwas Derartiges gibt es im Spiel. Trotzdem ist die Geschichte sehr kryptisch und bleibt auch nach dem großen Finale Interpretationssache. Sie kommt gänzlich ohne Worte beziehungsweise ohne Text aus und lädt dazu ein, komplett metaphorisch gelesen und auf Aspekte der menschlichen Existenz übertragen zu werden. Hierbei wollen wir eure Gedanken aber nicht schon im Voraus in eine bestimmte Richtung lenken.
Habt ihr Zeit und vor allem auch die Geduld, euch auf dieses Erlebnis einzulassen, sowie einen starken Magen, so kann das Spiel eine Faszination und Sogwirkung entwickeln, obwohl die Spielmechaniken nicht ganz gelungen sind. Geht unbedingt mit der Erwartung an Scorn heran, ein spielbares Kunstwerk zu erleben, das sich schwerlich in ein Genrekorsett zwingen lässt und euch ordentlich Hirnaktivität, beziehungsweise unkonventionelles Denken, abverlangt. Seid ihr dazu bereit, so könnt ihr eine Reise bestreiten, die ihr sicher nicht so schnell vergessen werdet.
Allerdings hätte das Spielerlebnis so viel besser wirken können, wenn es in seinem Mut zur Andersartigkeit konsequent geblieben wäre und auf die halbgaren Shootermechaniken verzichtet hätte. Auch ein paar mehr Highlights von der Sorte “Sir Riesenschwabbel” hätten dem Titel wirklich gutgetan.
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