Physik ist eigentlich gar nicht mein Ding. Als ich zu Beginn der 2000er-Jahre aufs Abitur zusteuere, werden logisch-mathematische Naturwissenschaften schneller aus dem Stundenplan verbannt, als man »Drehmoment « sagen kann.
Eine Sache lässt mich die Gesetze der Physik aber doch ganz genau beobachten, wenn auch vor der heimischen Röhre statt im Unterricht: Pro Evolution Soccer. Wie in keinem Fußballspiel zuvor konzentrieren sich die Entwickler von Konami damals auf das zentrale Spielelement, den Ball, und lassen ihn glaubwürdig nach Schüssen durch die Luft zischen, vom Pfosten abprallen, gegen Körperteile der Spieler springen und von dort ins Tor trudeln – oder eben nicht.
Diese haarsträubenden Situationen machen den echten und seit Pro Evolution Soccer auch den virtuellen Fußball so großartig. Deshalb ist das erste PES der Grund, warum das Wort »Ballphysik« seit 2001 meine wichtigste Vokabel für die Bewertung von Fußballspielen ist. Wenn nämlich der Ball schon nicht rund läuft, kann man ein Spiel ganz schnell mit Rot vom Platz schicken.
Steuerkreuz statt Stick
Als der Dualshock 2 unter meinen Fingern knirscht, kommen die Erinnerungen hoch. Richtig, ich habe Pro Evo immer mit dem Steuerkreuz gespielt. Der Grund ist simpel: Die Spieler laufen nur in acht Richtungen, analoges Steuern ist überflüssig.
Zwar behaupten damals manche Gegner, mit dem Analogstick könne man bessere Pässe spielen, das widerlege ich jedoch, indem ich die Stick-Theoretiker per Digikreuz zerlege. In jeder freien Minute rollt damals der Ball, als Sparringspartner muss oft der Computer herhalten.
Ich spiele die Europameister-schaft von 2000 nach oder rüste in der Meisterliga ein Fantasieteam zur Startruppe auf, die mit Weltklassespielern wie Kahn, Zidane oder Figo gespickt ist. Das alles ist letztlich aber nur Training für abendliche Turniere mit den Kumpels. Wenn vor dem Fernseher gejubelt oder geflucht wird, man Tore bestaunt und Pfiffe des Schiris diskutiert, dann läuft Pro Evo zur Hochform auf.
Und im Gegensatz zu genialen, aber simplen Multiplayer- Hits wie Mario Kart macht auch das Fachsimpeln vor und nach den Matches einen großen Teil des Spaßes aus. Das erste PES bietet nämlich von Grundaufstellungen bis zu Anweisungen an einzelne Spieler schon so viele taktische Feinheiten, dass man stundenlang darüber reden kann.
Der Autor
Seit dem ersten Pro Evo trainiert unser freier Autor Benjamin Blum täglich auf dem virtuellen Fußballplatz. Das bekommen auch die Kollegen von GamePro zu spüren: Als Benny 2003 eine Festanstellung bei seinem Lieblingsmagazin in München antritt, schießt er die Chefredakteure Gunnar und André erstmal aus dem Testlabor – diplomatisch geht anders. Zum Glück nehmen ihm die Vorgesetzten das damals nicht übel. Sagen sie zumindest ...
Spielmacher alter Schule
Vergleicht man das Ur-PES mit modernen Fußballtiteln, ist der Ball zu schnell, sind die Spieler zu wuselig und ihre Animationen hakelig. Setze ich aber die Fan-Brille aus dem Jahr 2001 wieder auf, sehe ich plötzlich große Fußballkunst: So sicher wie nie zuvor kombiniere ich durchs Mittelfeld oder zerschneide Abwehrreihen mit Steilpässen.
Dazu sind hohe Bälle und Flanken sehr präzise, die Schüsse und Kopfbälle wuchtig, aber auch raffiniert, wenn ich das Leder ins lange Eck schlenze oder über den Torwart hebe. Die Spieler-KI könnte zwar lauffreudiger sein und die freien Räume besser nutzen, dafür liefern sich die Akteure sehr realistische Zweikämpfe mit ihren Gegnern.
Meist halte ich einfach nur die X-Taste gedrückt, und die Kicker jagen kompromisslos dem Ball nach. Kein Vergleich zur »Abwarten, Position halten, zaghaft Anlaufen und bloß kein Foul begehen«-Taktik moderner Verteidiger. Überhaupt ist Pro Evolution Soccer nicht nur ein betagtes Spiel, es bildet auch betagten Fußball ab.
Allein die Namen Stefan Effenberg, 2001 Spielmacher des FC Bayern, oder Michael Ballack, damals Leverkusener, stehen für eine langsamere, aber aggressivere Spielweise, die nicht von Systemen und Matchplänen, sondern Alpha- Männchen dominiert wird. Und dann sind da noch die »Rumpelfußballer«, von Carsten Ramelow über Jens Jeremies bis Carsten Jancker, die stellvertretend für die Krise stehen, in der die Nationalmannschaft seit dem Vorrunden- Aus bei der Europameisterschaft 2000 steckt.
Gerade deshalb spiele ich bei PES gerne im DFB-Trikot, um Spielkultur statt Kampfkraft zu versprühen – und ganz nebenbei den EM-Titel zu verteidigen, den Deutschland 1996 zuletzt gewonnen hatte.
Aus »Zipparo« wird Pizarro
Als deutscher Fußballfan habe ich damals Glück: Die Nationalmannschaft gehört zu den Teams, die mit Originalnamen auflaufen – Nationen wie Brasilien oder Argentinien ist das nicht vergönnt.
Pro Evo hat von Anfang an ein gewaltiges Lizenzproblem. So gibt es nur 32 Klubteams, darunter drei deutsche, eine Bundesliga-Saison fällt also flach. Und selbst die vorhandenen Teams München, Dortmund und Leverkusen müssen mit Fantasiewappen und gefälschten Trikots auflaufen, viele Spieler zudem unter Decknamen wie »Zipparo« statt Pizarro. Mühsam tippe ich damals die richtigen Buchstaben im Editor ein – eigentlich Zeitverschwendung, aber ich kann nicht anders.
Am Ende spielt das Lizenzproblem für mich aber nur eine Nebenrolle: Obwohl ich seit International Superstar Soccer Fan der Fußballspiele von Konami bin, geht es mit Pro Evo erst richtig los. Seit 2001 stehe ich Jahr für Jahr in Hunderten Matches auf dem virtuellen Rasen, erlebe Grafik-Sprünge oder messe mich per Online- Multiplayer mit Spielern aus der ganzen Welt. Aber nicht nur für mich, sondern das gesamte Fußball-Genre ist Pro Evolution Soccer ein Meilenstein.
Der hohe Realismus und die gute Spielbarkeit sind stilbildend, sogar die Konkurrenz lässt sich langfristig inspirieren. Ich bin mir sicher, dass Spiele wie FIFA 16 heute niemals so realistisch wären, wenn PES zu Beginn des Jahrtausends nicht solch hohe Maßstäbe gesetzt hätte.
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