Videospielsucht - Wissenschaftler kritisieren die Debatte um Online-Gaming als Krankheitsbild

Die Debatte um Online-Spielsucht als Krankheitsbild geht weiter: In einem neuen Paper prangern mehrere Psychologen die offenbar geplante Pathologisierung an. Sie basiere kaum auf wissenschaftlichen Fakten und könne Gefahren bergen.

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Während sich Gaming beziehungsweise eSport mancherorts als 'richtiger' Sport etabliert, gibt es anderswo Bestrebungen, große Teile der Community für krank zu erklären. Das klingt dramatisch – und ist es auch: Wir sprechen von der Debatte darum, ob Online-Spielsucht als Krankheitsbild eingestuft werden soll (und wenn ja: wie?). In einem neuen Forschungs-Paper bemängeln der Psychologe Dr. Anthony M. Bean und einige seiner Kollegen, dass diese öffentliche Diskussion nicht auf der Basis von wissenschaftlichen Fakten geführt werde. Sie sei vielmehr von einem Klima der moralischen Panik und durch politischen Druck angetrieben, was im schlimmsten Fall sogar gefährlich sein könne.

Es gibt zwei Vorschläge, die für Furore sorgen: Online-Spielsucht soll als neue, eigene Kategorie beziehungsweise Krankheit in den zwei großen Diagnose-Katalogen ICD (International Compendium of Diseases) und DSM(Diagnostic and Statistical Manual) eingetragen werden. Während das DSM vor allem in den USA eine große Rolle spielt, ist der ICD das wichtigste, weltweit anerkannte Klassifikations-System für medizinische Diagnosen. Treibende Kräfte hinter den Pathologisierungs-Bestrebungen sind die APA(American Psychiatric Association) und die WHO(Weltgesundheitsorganisation).

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Laut Dr. Anthony M. Bean und seinen Kollegen gibt es aber einfach noch nicht genug Forschungsergebnisse, um Online-Spielsucht zur Liste der Krankheiten hinzuzufügen. Die existierenden Studien liefern unzuverlässige, widersprüchliche Grundlagen, sagt der Forscher:

"Im gesamten Feld der 'Videospielsucht' reicht die Häufigkeit von 0.8 % bis hin zu 50 % der gesamten Gaming-Bevölkerung, je nachdem, welche Studie man sich ansehen möchte."

Die Befürworter der Klassifikation von Online-Spielsucht als Krankheitsbild sind sich darüber hinaus auch noch gar nicht so richtig einig, wie sie die Krankheit denn nun definieren wollen. Das spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle: Es hängt stark von den angesetzten Kriterien ab, wie viele Spielende zukünftig zu Kranken erklärt werden könnten. Es gibt zum Beispiel Arbeiten, die die Schwelle für Online-Spielsucht so niedrig ansetzen, "dass mit diesem Maßstab praktisch jede menschliche Verhaltensform als Sucht durchgehen könnte", wie Thorsten Quandt erklärt (seines Zeichens Professor und Direktor des Instituts für Kommunikationswissenschaft der Universität Münster, wo er den Arbeitsbereich für Online-Kommunikation leitet).

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Widerstand gegen den Vorstoß der APA und der WHO regt sich in der Wissenschaft an breiter Front. Christopher J. Ferguson argumentiert zum Beispiel, wir hätten es vielmehr mit einer gesellschaftlichen, "moralischen Panik" zu tun. Ähnlich wie schon bei anderen, seinerzeit 'neuen' Medien – zum Beispiel Bücher, Comics oder Rockmusik – handele es sich um angstbesetzte, radikale Ablehnung.

Auch der Psychologe Mark Griffiths und dessen Kollegen sind von der öffentlichen Debatte mindestens irritiert und sprechen von "Chaos und Konfusion". Nicht nur die Kriterien der APA seien fragwürdig: Insbesondere die Frage nach dem eigentlichen Objekt der Begierde, dem Auslöser der Sucht, treibt sie um. Es bleibe unklar, ob die Spielenden nach einem bestimmten Genre, einzelnen Videospielen, der Online-Nutzung an sich oder etwas ganz anderem süchtig seien. Griffiths und seine Co-Autoren sehen das Problem eher als eine Kombination aus der jeweiligen Persönlichkeit, der sozialen Situation, mangelnder Orientierung und dem Medienangebot.

Gegenüber Polygon erklärt Dr. Anthony M. Bean:

"Wir wissen nicht, was Videospielsucht ist... Die psychologischen und medizinischen Felder haben das Konzept der Abhängigkeit genommen – egal, ob es sich dabei um Substanz-Missbrauch oder irgendetwas Ähnliches handelt – und einfach mit Videospielen ausgetauscht. Der Gedanke war: 'Oh, es ist eine Form der Abhängigkeit. Es ist wie jede andere Abhängigkeit.' Aber es ist nicht dasselbe."

Der Psychologe gibt zu Bedenken, dass so hypothetisch auch andere Hobbys wie Football oder Lesen zur Krankheit erklärt werden könnten. In Sachen Videospielsucht würden außerdem die falschen Fragen gestellt. Es gehe doch vielmehr darum, ob eine Person aufgrund des Spielens seine Arbeit vernachlässige, keine Rechnungen mehr zahle oder auf irgendeine Art und Weise ein produktiver Teil der Gesellschaft sei. Womöglich könnte eine Pathologisierung mehr Schaden anrichten, als eine Behandlung der angeblichen Spielsucht helfen würde:

"Vielleicht ist diese Person ängstlich. Vielleicht ist diese Person in Wirklichkeit depressiv und nutzt Videospiele als Coping-Mechanismus, durch den sie mit persönlichem Stress umgehen kann."

"Das sind alles Fragen, die im Moment nicht gestellt werden. "

Auch das vermehrte Aufkommen von Camps, in denen Kindern die Online-Spielsucht ausgetrieben werden soll, sei äußerst kritisch zu betrachten:

"Wenn du 'Videospielsucht' googelst, gibt es hier Camps in den Vereinigten Staaten. Du wirst Hunderte aufpoppen sehen. Es ist wahnsinnig, die Leute schicken ihre Kinder über den Sommer in diese Wildnis-Programme und denken 'Oh, sie werden meine Videospielsucht heilen, oh mein Gott!' Aber das tun sie nicht."

"Sie verstehen die Idee der Videospielsucht nicht. Sie verstehen nicht, dass es das gar nicht wirklich gibt."

Sollte Videospiel- beziehungsweise Online-Spielsucht tatsächlich als Krankheit anerkannt werden, würden unzählige Menschen mit einem Schlag therapiebedürftig. Das eröffnet einen völlig neuen, riesigen Markt, was bei der Debatte ebenfalls eine große Rolle spielen dürfte. Dementsprechend viel Druck üben zum Beispiel Politiker auf diejenigen aus, die solche Entscheidungen treffen. Bereits 2016 hat Dr. Geoffrey M. Reed (Mitglied einer WHO-Beratergruppe, die an der nächsten ICD-Ausgabe arbeitet) in einer Email an Polygon Folgendes geschrieben:

"Nicht alles hängt von mir ab. Wir waren enormem Druck ausgesetzt, das beizufügen, insbesondere von asiatischen Ländern."

Laut Thorsten Quandt werde hier gerade ein "gefährlicher Präzedenzfall geschaffen, weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit und großen Teilen der Wissenschaft". Er befürchte einen Dammbruch, der weitere neue Krankheitsbilder nach sich ziehen könnte mit "Auswirkungen, die weit über die Online-Spielsucht hinausgehen".

"Mit gutem Grund gelten in demokratischen Staaten hohe Schranken für die Einschränkung der Nutzung von Medien. Besonders die bei der WHO diskutierten unspezifischen Einschränkungen oder gar Verbote von Online-Spielen aus medizinischen Gründen wecken ungute Assoziationen mit dem Handeln autokratischer Regimes, denen vermeintliche psychische Krankheiten in der Geschichte als Vorwand für repressive Maßnahmen gegen Einzelne dienten."

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