Actionkämpfe, offene Welten, Schleich- und Geschicklichkeitseinlagen … kaum ein Genre hat sich heutzutage so weit von seinen 8- und 16-Bit-Wurzeln entfernt wie das japanische Rollenspiel. Vielen gefällt das, aber eine kleine … gut, vielleicht nicht ganz so kleine Schar an Spielern vermisst die Zeiten von Weltkarten, Gasthäusern und rundenbasierten Kämpfen. Dass diese Schar gar nicht so klein ist, hat auch Rollenspielriese Square Enix bemerkt und mit der "Tokyo RPG Factory" ein kleines Boutiquen-Studio gegründet, das genau diese Nische bedienen soll.
Mit I am Setsuna ist dem Team im letzten Jahr ein gelungener Einstand geglückt. Das verschneite, nur von Klaviermusik begleitete Abenteuer beeindruckt mit melancholischer Stimmung und einem Kampfsystem, das nicht von ungefähr an den 16-Bit-Klassiker Chrono Trigger erinnert. Lost Sphear, der zweite Titel des kleinen Teams, schlägt in eine ähnliche Kerbe, kommt aber selbstbewusster daher, als der oft experimentelle und noch etwas vorsichtige Erstling.
Klassische Erzählung
Wo I am Setsuna bewusst Abstand von gängigen Genre-Topoi nimmt, empfängt Lost Sphear sie mit offenen Armen. Der Held erwacht zu Beginn des Spiels in seinem Bett? Check. Nach kurzer Zeit geht es seinem Heimatdorf an den Kragen? Check. Eine burschikose Freundin, die eigentlich viel lieber als feminin wahrgenommen werden würde? Check. Ein geheimnisvoller, wortkarger Fremder im langen schwarzen Mantel mit weißem Haar? Aber sowas von Check! Während I am Setsuna inhaltlich bewusst neue Wege geht, bedient sich Lost Sphear großzügig aus der Asservatenkammer der 90er-Jahre.
Ein Kritikpunkt ist das nicht, stattdessen helfen die klassischen Story-Beats dem Spieler, sich in die neuen Spielsysteme einzufinden. Denn bei Lost Sphear droht die Welt zu verschwinden, und nur die Erinnerung daran vermag sie zurückzuholen. Diese Erinnerungen bekommt ihr zum Beispiel, wenn ihr Monster im Kampf besiegt. Habt ihr genügend davon gesammelt, wetzt ihr zu einem der vielen weißen Punkte auf der Weltkarte und stellt einen Teil davon wieder her. Das erweitert nicht nur euren Aktionsradius, ihr bekommt auch nützliche Boni: Je nachdem, wie ihr die Welt wiederherstellt, haben die Helden einen Bonus auf kritische Schläge, eine höhere Chance, zu Kampfbeginn die Initiative zu ergreifen, und ihr bekommt die Lebensenergie eurer Gegner angezeigt. Durch die Beeinflussung der Welt passt ihr sie an eure eigene Spielweise an, eine intelligent verzahnte Mechanik, die für spielerische Flexibilität und eine Menge Motivation sorgt.
Active Time Battle 2.0
Vergleichsweise bodenständig ist der Kampf. Das System, von den Entwicklern selbst als Active Time Battle (ATB) 2.0 bezeichnet, erinnert abermals an frühere Episoden von Final Fantasy und den Klassiker Chrono Trigger, erweitert es aber um wichtige Elemente. Jede Figur hat eine Aktionsleiste. Ist diese gefüllt, darf sie agieren. Angreifen, Spezialmanöver, Gegenstände einsetzen … soweit so klassisch. Neu ist aber, dass die Figur sich vor ihrer Aktion frei über die Kampffläche bewegt.
Das macht das Stellungsspiel zu einem zentralen Element im Kampf: Aus dem richtigen Winkel trifft euer Fernkämpfer gleich drei Gegner auf einmal und manch ein Monster erlegt man besser aus sicherem Abstand. Wer seine Figuren alle im Pulk platziert, der muss sich nicht wundern, wenn der Gegner mit einem einzigen Flächenzauber eure Party dezimiert. Ähnlich wie bei Final Fantasy 7 kann fast jede Aktion verstärkt werden, wenn ihr im richtigen Moment die Viereck-Taste drückt.
Mehr Schaden oder effektivere Heilung ist die Belohnung. Dazu kommt die Möglichkeit einer Verwandlung: Ihr kämpft nicht nur in eurer menschlichen Form, sondern könnt auch in kleine, knuffige Mechs einsteigen, die jedes Partymitglied dabei hat. Anstatt einfach nur die Kampfwerte und das Einsteckvermögen zu verändern, geben euch diese Mechs eine teilweise komplett neue Manöverpalette. An Tiefgang fehlt es dem Kampfsystem ganz sicher nicht.
Grobe Polygone statt feiner Pixel
In Sachen Präsentation knüpft Lost Sphear derweil an I am Setsuna an, bietet aber erneut mehr von allem. Wälder, Wiesen, Wüsten, Berge: Lost Sphear zieht alle klassischen Rollenspiel-Register. Die Kamera ist dabei trotz polygonaler Umgebung stets fest platziert, die Figuren sind meist von schräg oben zu sehen. Der grafische Detailgrad ist eher überschaubar, manch ein Effekt wie das einfache Ein- und Ausblenden von Figuren in Dialogen und automatisch ablaufenden Zwischensequenzen sorgen noch dazu für Lücken in der Immersion, dafür holt euch die gelungene Musik immer wieder ins Abenteuer zurück.
Klar ist nach dem Anspielen dieser Version vor allem eines: Wer seine Rollenspiele wegen des grafischen Spektakels und filmreifer Inszenierung spielt, der ist bei Lost Sphear an der falschen Adresse. Wer dagegen die guten, alten 16-Bit-Zeiten vermisst, seine Kämpfe rundenbasiert und taktisch mag und Freude daran hat, die Welt nach seinen Wünschen und Bedürfnissen zu formen, der setzt sich Lost Sphear Anfang 2018 ganz oben auf die Einkaufsliste.
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