In diesen Tagen des Hypes um Pokémon Go muss ich oft an Satoru Iwata denken. Als vor rund einem Jahr der damalige Nintendo-Chef verstorben ist, war ich – wie viele – tief getroffen. Schließlich war der sympathische Japaner nicht nur ein leidenschaftlicher Spieler, sondern auch ein echter Visionär. Mit der von ihm verordneten »Blue Ocean«-Strategie hat er es geschafft, Nintendo nach den schwierigen Game-Cube-Jahren mit der Wii nahezu unanständig profitabel zu machen. Ganz einfach, indem er sich nicht mit Sony und Microsoft im blutig umkämpften »Red Ocean« um Marktanteile gebalgt hat, sondern abseits der typischen Konsolen-Spielerschaft neue Kunden für die Wii gesucht und gefunden hat.
Der Autor
Markus Schwerdtel hat schon mit Ingress erste AR-Erfahrungen gesammelt und kennt deshalb alle Pokéstops zwischen Rosenheim und München Ost wie seine Westentasche. Seit dem Start von Pokémon Go hat er mit so vielen Fremden gesprochen wie die letzten zehn Jahre zusammen nicht. Schließlich gibt es kaum etwas Schöneres, als mit Gleichgesinnten bis ins kleinste Detail über eigentlich komplett unwichtige Themen abzunerden.
Ein neuer Ozean
Was die Erinnerung an Satoru Iwata mit Pokémon Go zu tun hat? Nun, was momentan mit Nintendos AR-App passiert, ist erneut ein extrem erfolgreiches Fischen im blauen Ozean. Allerdings in viel, viel größerem Maßstab als vor rund zehn Jahren bei der Wii. Man muss sich nur mal die Zahlen vor Augen führen: Die Mobile-Marktforscher von Slice Intelligence melden, dass am 10. Juli 2016 rund 47 Prozent aller In-App-Käufe auf Pokémon Go entfallen sind. Fast die Hälfte! Dazu kommt, dass überdurchschnittlich viele Spieler aus der bei Marketing-Menschen begehrten Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen ihr Geld in Pokémon Go ausgeben.
GameStar-TV: Phänomen Pokémon Go
Damit haben Nintendo, Niantic und die Pokémon Company gerade mal ein paar Tage nach Veröffentlichung die bisherigen Platzhirsche wie Clash of Clans, Candy Crush Saga usw. deklassiert. Mit einer ehrlich gesagt noch ziemlich unfertigen, verbuggten, feature-armen App, die obendrein das auch schon ein paar Jahre alte AR-Spiel Ingress kopiert und die Möglichkeiten der Augmented Reality nicht mal voll ausschöpft – technisch wäre inzwischen mehr machbar Aber anscheinend ist all das egal, die mobilen Pokémon führen in allen bisher damit beglückten Ländern die App-Charts an.
Die Geburt eines Trends
Klar ist schon jetzt: Pokémon Go hat eine Reihe von Leuten ordentlich wachgerüttelt. Auf jeden Fall schon mal sämtliche Spieleentwickler, vor allem im Mobile-Bereich. Denn hier kommt quasi aus dem Nichts ein Konkurrent, der ihnen trotz aller Bugs und Mängel die User und damit Umsätze abspenstig macht.
Mindestens genauso hellhörig dürften alle Inhaber von Unterhaltungsmarken geworden sein – von Disney über HBO bis hin zu großen Buchverlagen. Es würde mich schwer wundern, wenn nicht schon an Konzepten zu einem Star Wars Go, Game of Thrones Go oder Harry Potter Go gearbeitet würde.
Sie sind überall!
Den größten Schockeffekt dürfte Pokémon Go aber wohl auf unsere Gesellschaft haben. Klar, das Spiel zettelt (zum Glück) keine blutige Revolution an und stellt auch unsere Wirtschaftsordnung nicht auf den Kopf. Aber plötzlich spielen sehr, sehr viele Leute ein Videospiel, die sonst im Leben nicht draufgekommen wären. Und wer aus irgendwelchen Gründen nicht selber spielt, der sieht sich zumindest von Pokémon-Jägern umzingelt und ist gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen.
GameStar Plus: 20 Jahre Pokémon
Wann war zuletzt ein Spiel so präsent im Alltag, auch in dem von Nichtspielern? Ich kann mich in meiner nun doch schon rund 30-jährigen Spielerkarriere an kein vergleichbares Phänomen erinnern. Nicht mal der erste Game Boy hat das geschafft, trotz der Killerkombination mit Tetris.
Was Pokémon Go auf Dauer mit uns macht? Keine Ahnung, vielleicht werden wir ja wirklich alle zu superfitten Viel-Spazierern, wer weiß? Vielleicht ist der Spuk aber auch schnell wieder vorbei. So oder so: Die Idee eines simplen, leicht zugänglichen, quasi nebenbei spielbaren AR-Abenteuers für jedermann ist in der Welt, mit all seinen positiven Aspekten, aber auch eher schmuddeligen Monetarisierungsfantasien. All das wird nicht so schnell verschwinden. Andere Entwickler werden darauf aufbauen, mit leistungsfähigeren Geräten und »saubereren« Geodaten können sie in Zukunft immer bessere Spiele bauen. Satoru Iwata würde sich freuen.
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