Ich habe Journey nie gespielt, weil ich zu viel Angst davor hatte

Den PS3-Klassiker Journey wollte Eleen schon immer mal spielen. Aber ihre Versagensängste haben sie bisher davon abgehalten.

Versagensängste machen Journey für Eleen zu einer echten Herausforderung. Versagensängste machen Journey für Eleen zu einer echten Herausforderung.

Wie viele andere habe auch ich einen scheinbar stetig wachsenden Pile of Shame - Spiele, die ich irgendwann mal spielen werde, ganz bestimmt. Das Problem bei den meisten ist einfach, dass ich nicht genug Zeit für sie habe.

Bei dem Titel, der seit über zehn Jahren an der Spitze dieser Liste steht, ist das aber anders. Ich kann mich einfach nicht dazu überwinden, das knapp zweistündige Spiel endlich anzufangen. Die Rede ist vom PS3-Klassiker Journey und der Grund ist simpel: Ich habe Angst. Angst, vor einer fremden Person zu versagen.

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Niemand darf merken, wie schwer es ist

Um zu erklären, woher diese irrationale Angst vor Journey kommt, muss ich aber erstmal ausholen. Ich war 28, als ich meine ADHS-Diagnose bekommen habe. Im ersten Moment war ich erleichtert, vieles ergab endlich Sinn. Früher habe ich nie verstanden, warum Dinge scheinbar grundlos schwerer für mich waren.

Das ist ADHS: ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Zu den typischen Symptomen zählen gestörte Konzentrationsfähigkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. Die verschiedenen Symptome können dabei unterschiedlich stark ausgeprägt sein, führen bei Betroffene aber zu Leidensdruck und schränken sie in mehreren Lebensbereichen ein. Mehr Infos zu ADHS im Kindes- und Erwachsenenalter gibt es hier.

Ich habe nicht verstanden, dass Leute “ich will nicht” gehört haben, wenn ich “ich kann nicht” gesagt habe. Dabei konnte ich mich schlicht physisch nicht zu den scheinbar einfachsten Dingen bewegen: Sei es Wäsche aufhängen, für die Schule lernen, sogar Hobbys wie die Konsole anschmeißen und zocken.

Oft genug hörte ich, dass ich faul sei oder es nicht genug versuche, wenn ich mich nicht konzentrieren konnte. Noch dazu waren viele meiner Herausforderungen als begabtes Kind für andere unsichtbar, denn in der Schule kam ich immer irgendwie durch.

Wenn ich mir die wunderschöne Welt von Journey anschaue, bekomme ich direkt Sehnsucht, selbst zu spielen. Wenn da nur nicht die lästige Angst wäre. Wenn ich mir die wunderschöne Welt von Journey anschaue, bekomme ich direkt Sehnsucht, selbst zu spielen. Wenn da nur nicht die lästige Angst wäre.

Heute weiß ich, dass mein Gehirn ein Dopamin-Defizit hat, das meine Fähigkeit wenig belohnende Aufgaben auszuführen stark einschränkt. Ich habe über die Jahre Strategien entwickelt, um meine Defizite bestmöglich auszugleichen und zu verstecken: Deadlines setzen, um mir selbst Druck aufzubauen oder in Gesprächen meine Hände beschäftigen, um besser zuhören zu können.

Das bedeutet aber zugleich, dass ich Angst davor entwickelt habe, entblößt zu werden - dass jemand merkt, wie schwer mir die scheinbar einfachsten Sachen fallen oder dass ich im Gespräch so damit beschäftigt bin, aufmerksam auszusehen, dass in meinem Kopf gar keine Kapazität dafür übrig bleibt, tatsächlich zuzuhören. Dass ich für mein Versagen verurteilt und zurückgewiesen werde. Denn auch die starke Angst vor Ablehnung gehört zu ADHS.

Kurzum, ich habe Versagensängste und die machen auch vor Spielen nicht halt. Denn wo Multiplayer-Titel mir noch eine gewisse Anonymität in der Masse geben, habe ich diesen Luxus im Koop zu zweit nicht. Journey mit einer fremden Person zu spielen, ist daher eine Horrorvorstellung für mich.

Eleen Reinke
@ottadice

Eleen spielt am liebsten Singleplayer-Spiele, nicht nur weil sie Geschichten mag, sondern auch, weil sie da in Ruhe ausprobieren kann, ohne sich beobachtet zu fühlen. In Multiplayer-Titel springt sie am liebsten nur, wenn sie vorher solo üben und die Mechaniken lernen kann. Erst, wenn sie sich sicher genug fühlt, spielt sie auch gerne mit anderen Menschen.

Wenn ich auch nur einen Fehler mache, werde ich das nie vergessen

Als Journey erschien, habe ich mich wahnsinnig darauf gefreut, es mit Freunden zu spielen. Der wunderschöne Artstyle und Soundtrack versprachen mir ein Spiel, das genau richtig für mich sein würde. Aber dann kam schnell der Dämpfer: Mein*e Koop-Partner*in wird mir in Journey zufällig zugeteilt. Keine Option, mit der Sicherheit einer Person zu spielen, die ich gut kenne, keine Freunde, von denen ich weiß, dass sie meine Macken nicht verurteilen. Die Angst vor dem Versagen kam sofort zurück.

Natürlich ist sie vollkommen irrational. Journey ist kein sonderlich forderndes Spiel, viel falsch machen kann man nicht. Aber je länger das Spiel draußen war, desto mehr habe ich mich in die Angst hineingesteigert. Immerhin kennen alle das Spiel inzwischen, wenn ich jetzt als Neuling einen Fehler mache oder die Steuerung nicht begreife, wäre das umso peinlicher. Und so dümpelt das Spiel seit Jahren auf der Festplatte meiner PlayStation, während ich mir dumme Fehler erdenke, die mich bis ans Ende meiner Tage verfolgen würden.

Ohne Worte mit einer vollkommen fremden Person das gleiche Ziel verfolgen - manchmal stelle ich mir das einfach schön vor. Manchmal male ich mir aber auch aus, was alles schief laufen könnte. Ohne Worte mit einer vollkommen fremden Person das gleiche Ziel verfolgen - manchmal stelle ich mir das einfach schön vor. Manchmal male ich mir aber auch aus, was alles schief laufen könnte.

Dabei kann objektiv gesehen nichts schreckliches passieren, das weiß ich, schlimmstenfalls kann mein*e Mitspieler*in einfach gehen. Aber anders als in großen Multiplayer-Titeln wie etwa Overwatch, wo mich die Meinungen anderer Spieler*innen größtenteils kalt lassen, ist die Zweisamkeit von Journey persönlicher und schon durch das Spieldesign emotionaler. Und das gibt mir das Gefühl, verletzlicher zu sein.

Der erste Schritt 

Ich weiß natürlich, dass diese Ängste unverhältnismäßig sind, dass ich aller Wahrscheinlichkeit nach ein schönes Erlebnis mit Journey haben werde, wenn ich es irgendwann mal spiele. Selbst beim Schreiben dieses Textes läuft der Soundtrack, den ich schon hunderte mal rauf und runter gehört habe. Und ja, ich weiß auch, dass ich Journey offline spielen könnte, aber da meldet sich mein lästiger Stolz zu Wort, der will, dass ich das Spiel “richtig” erlebe.

Journey ist für mich eine größere Herausforderung als jeder Elden Ring-Boss. Nicht etwa, weil es mechanisch fordernd ist, sondern weil ich eine viel größere Hürde überwinden muss: Ich muss meine Versagensängste überwinden, mich einer fremden Person gegenüber verletzlich machen… und auf das Beste hoffen.

Immerhin, der erste Schritt ist schon geschafft. Wenn ich tausenden fremden Menschen auf GamePro von meinen Ängsten erzählen kann, kann ich schließlich auch den nächsten Schritt gehen und mich ihnen stellen. Irgendwann. Bis dahin bereite ich mich noch mit dem Soundtrack vor.

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Eine wichtige Bitte: Da es sich bei unseren Artikeln aus der Mental Health-Woche um sensible Themen handelt, die uns beim Schreiben teilweise viel abverlangt haben, bitten wir euch an dieser Stelle ganz besonders um eine freundliche und verständnisvolle Kommentarkultur. Vielen Dank und viel Spaß beim Lesen!

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