Kolumne: Erwartungen an die E3 2015 - Lass dich nicht überraschen!

Die E3 in Los Angeles ist die wichtigste Spielemesse der Welt, und feiert doch nur das Hier und Jetzt. Überraschungen erwartet Michael Graf dort keine.

»Experience the Evolution« lautet das Motto der E3 2015. »Erlebe die Evolution« also. Wow. Das klingt wie der Titel eines 60er-Jahre-Films, in dem ein Stop-Motion-Urzeitfisch schwer japsend aus dem Meer kriecht. Einer dieser Filme eben, die der Biolehrer durch den alten Klassenprojektor rattern lässt, wenn er keine Lust auf Lehrplanvermittlung hat. Bisschen schwierig, da in ekstatische Vorfreude zu verfallen.

Aber ein Motto heißt ja nix. Vor drei Jahren stand auf dem Torbogen der weltwichtigsten Spielemesse ja auch »Innovation unveiled« - und dann gab's statt enthüllter Innovation doch nur übertriebene Blutszenen aus müden Fortsetzungen. Statt Evolution (lies: der Weiterentwicklung des Bekannten) könnte uns auf der diesjährigen E3 also durchaus eine Revolution erwarten. Nur: Welche denn bitte?

Auf einer Leitmesse wie der E3 sollte die Spielebranche doch eigentlich ihre Zukunft präsentieren. Oder zumindest ihre Vision derselben, die Trends und Themen von übermorgen. Auf der IAA zeigen die Autokonzerne ja ebenfalls nicht nur ihre neuen Mittelklassebenziner, sondern auch Elektrokarossen, die erst in einigen Jahren die Straßen erobern dürften. Wenn überhaupt. Aber die Konzerne wollen eben beweisen, dass weiter denken als bis zum nächsten Quartalsbericht.

Ein neues Fallout? Wow, das kam überraschend ... nicht. Ein neues Fallout? Wow, das kam überraschend ... nicht.

Wo aber ist die Vision der Spielebranche? Was sieht sie als Spieletrend von übermorgen? Und vor allem: Wo bleibt die Überraschung? Klar, wir werden viele spannende Spiele sehen, ich persönlich freue mich vor allem auf Fallout 4 - völlig egal, wie das Hundefell aussieht - und aufs neue Master of Orion, das hoffentlich vom Free2Play-Online-Markenmissbrauch verschont bleibt. Außerdem stehen Halo 5, Doom und das neue Zelda auf dem Messeplan, Star Wars: Battlefront, The Division und etliche andere auch.

Klar, alles interessant, aber auch alles zu erwarten: Fortsetzungen, Altmarken-Revivals, Infoschnipsel zu längst angekündigten Spielen. Und wenn die Spiele noch nicht angekündigt sind, dann ist ihre Enthüllung meist auch keine echte Überraschung mehr. Zum Beispiel, weil sie sowieso schon vorher geleakt sind. Und Fallout 4? Wow, ehrlich? Die Bethesda Game Studios haben in den letzten vier Jahren nicht einfach nur ihre Skyrim-Geldbündel gezählt?

Mehr dazu: Die 50 wichtigsten Spiele der E3 2015

Würde denn wirklich jemand vom Hocker fallen, wenn Electronic Arts neben Battlefront noch weitere Star-Wars-Spiele entwickelt, zum Beispiel eines über Han Solo? Wohl kaum, die Sternenkriegs-Lizenz dürfte den Publisher einiges gekostet haben. Das soll sich ja rentieren. Selbst ein Red Dead Redemption 2 wäre nach all den Andeutungen der letzten Monate zwar erfreulich, aber keineswegs unerwartet.

Hat die Spielebranche denn verlernt, uns zu überraschen?

Der Autor
Michael Graf erlebt dieses Jahr seine elfte E3 als Journalist, zählt sich aber noch längst nicht zu den verknöcherten Altschreibern, die sich über gar nichts mehr freuen können. Natürlich weiß er auch spannende Spiele und Enthüllungen zu schätzen (Wehe, Bethesda versaut Fallout 4!), und freut sich deshalb immer noch auf alle möglichen Messen zwischen Los Angeles und Tokyo. Zugleich fände er's aber nicht schlecht, wenn die Branche dort mehr über ihre eigene Zukunft reden würde als über die Gegenwart.

Virtual Reality am Rande

Gut, es gibt ja noch die Trend-Hoffnungsträger Virtual Reality und Augmented Reality, auf die ich wahnsinnig gespannt bin, seitdem ich vor zwei Jahren auf der E3 das HD-Devkit der Oculus Rift ausprobiert habe. So wird Sony sicherlich ein paar Worte zu seinem VR-Projekt Morpheus verlieren, vielleicht sogar einen Releasetermin (bisher hieß es lapidar »2016«) und einen Preis nennen. Wie erfolgreich das VR-Headset letztlich wird, hängt schließlich nicht unerheblich davon ab, wie viel es kostet.

Microsoft wiederum hat versprochen, auf der E3 die Augmented-Reality-Brille HoloLens zu demonstrieren - hoffentlich mit überzeugenderen Spielen als anno 2009 bei der Kinect-Enthüllung (»Hurra, ich kann durch Herumfuchteln den Fernseher anmalen!«). Ich hoffe also zumindest auf eine HoloLens-Version von Minecraft. Wer hat nicht schon immer davon geträumt, Klötzenchenburgen auf dem Klodeckel zu errichten? Na ja, ich zum Beispiel. Cool wär's trotzdem.

Szene aus dem HoloLens-Ankündigungsvideo: Bekommen wir das Augmented-Reality-Minecraft auf der Messe zu sehen? Szene aus dem HoloLens-Ankündigungsvideo: Bekommen wir das Augmented-Reality-Minecraft auf der Messe zu sehen?

Oculus VR hat einen prominenten Stand am Eingang der West Hall, direkt neben Sony, Microsoft und Nintendo. Dort will man nicht nur die aktuelle Rift-Version zeigen, sondern auch einen eigenen Controller - ein logischer Schritt, schließlich haben alle Konkurrenten (Microsoft, Sony, Valve) ebenfalls einen. Apropos: Valve wird nicht auf der E3 vertreten sein, sein Steam VR (beziehungsweise das Headset HTC Vive) könnte aber immerhin an Partnerständen gezeigt werden.

So oder so werden erweiterte und virtuelle Realitäten auf der Messe eine Rolle spielen, aber eben keine zentrale. Sony und Microsoft werden klassische Spiele für die Xbox One und die PlayStation 4 in den Vordergrund stellen. Und auch Electronic Arts, Ubisoft, Activision, Bethesda & Co. werden bei ihren Präsentationen Virtual Reality allenfalls am Rande erwähnen, wenn nicht sogar komplett ausklammern.

Sonys Project Morpheus wird auf der Messe zu sehen sein. Markus Schwerdtel auch, der ist für uns nämlich vor Ort. Sonys Project Morpheus wird auf der Messe zu sehen sein. Markus Schwerdtel auch, der ist für uns nämlich vor Ort.

Bethesdas Pete Hines wird Fallout 4 auf der Pressekonferenz-Bühne also eher nicht mit dem VR-Headset spielen, Sony wird eher nicht überraschend ankündigen, dass der alte »Erscheint es noch?«-Running-Gag The Last Guardian exklusiv als Virtual-Reality-Titel erscheint.

Warum? Weil sich die Technologie schwer präsentieren lässt, wenn man nicht jedem Pressekonferenz-Zuschauer sowie Let's-Play- und Trailer-Betrachter ein VR-Headset nach Hause schickt. Die Faszination VR erschließt sich nur beim Erleben, und das geht ohne entsprechende Hardware nicht. Das hat auch schon zum Versanden des 3D-Trends beigetragen: Wie soll ich 3D-Spiele cool finden, wenn ich sie auf meinem 2D-Monitor oder -Fernseher gar nicht sehen kann? Noch dazu ist Virtual Reality allenfalls bedingt massentauglich, weil vielen Spielern beim Herumturnen im virtuellen Raum übel wird, verfeinerte Technik hin oder her.

Sex sells: Was ist eigentlich mit VR-Pornographie?

Was werden wir auf der E3 also hauptsächlich zu sehen bekommen? Klassische Spiele. Vielleicht ein bisschen schöner als im vergangenen Jahr, vielleicht ein bisschen ausgefeilter, vielleicht sogar ein bisschen frauenfußballiger. Aber doch dasselbe wie jedes Jahr. Übermorgen? Ist doch egal, heute spielt die Musik.

Was bringt die Zukunft?

Dabei gäbe es durchaus spannende Zukunftstrends, etwa das Streaming. Technisch ist es bereits jetzt möglich, dass Spiele komplett auf Online-Servern laufen und nicht mehr auf den Rechnern oder Konsolen der Spieler - eine entsprechend schnelle Internet-Leitung vorausgesetzt. Sony ermöglicht das bereits mit seinem Online-Dienst PlayStation Now, über den man ohne Download alte PS3-Titel spielen kann. Bislang jedoch nur in Nordamerika - gut möglich, dass PlayStation Now 2015 auch nach Europa kommt.

Micorsoft hingegen will vorerst nur erlauben, Spiele von der Xbox One auf andere Windows-10-Geräte zu streamen, etwa einen PC oder ein Tablet. Ein vollwertiger Online-Streaming-Dienst ist bislang noch Zukunftsmusik. Aus gutem Grund: Man möchte ja auch noch Hardware (lies: Konsolen) verkaufen, auf denen die Spiele laufen. Deshalb erlaubt Sony auch (noch) nicht das Streaming von PS4-Spielen.

Nicht umsonst gehen Branchenkenner davon aus, dass die klassischen Konsolen aussterben, sobald sich das Streaming auf breiter Front durchsetzt. Dafür bräuchte man ja nur einen kleinen Empfänger und kein leistungsfähiges Highend-Spielgerät mehr. Und daran wiederum kann Sony und Microsoft nicht gelegen sein. Zumindest noch nicht.

Via PlayStation Now lassen sich PS3-Spiele direkt im Stream spielen. Via PlayStation Now lassen sich PS3-Spiele direkt im Stream spielen.

Statt uns allzu viele Gedanken über die Spiele-Zukunft zu machen, sollen wir uns erst mal weiter auf die nächsten zwei Jahre freuen. Zukunftstechnologien sind eine Sache für die Zukunft, jetzt wollen erst mal Konsolen verkauft werden, in deren Entwicklung hat man ja auch eine gute Stange Geld investiert. Zugleich liegt auf der Hand, dass die Forschungsabteilungen von Sony und Microsoft (und wahrscheinlich auch Amazon sowie womöglich Apple) längst an vollwertigen Spiele-Streaming-Angeboten arbeiten.

Sicherlich gibt's beim Streaming noch viele ungeklärte Fragen, etwa rechtlicher Natur: Was genau kaufe ich eigentlich, wenn ich ein Spiel nicht mal herunterladen kann? Welche Geschäftsmodelle wird es geben (PS Now läuft derzeit als Flatrate-Abonnement, wie es auch viele Filmportale anbieten)? Und was ist mit unterschiedlichen Lizenzsituationen in unterschiedlichen Regionen, da herrscht ja schon bei Film- und Serienportalen das totale Chaos? Ja, all das will noch durchdacht werden. Aber drüber reden könnte man doch schon mal.

Der Mobile-Markt (hier: Clash of Clans) boomt auch ohne Messe. Der Mobile-Markt (hier: Clash of Clans) boomt auch ohne Messe.

Doch statt uns auf übermorgen zu freuen, sollen wir eben erst mal nur die nächsten zwei Jahre im Blick behalten. Selbst Nintendo, sonst Garant für mehr (Wii) oder minder (Wii U) gelungene Innovation, möchte seine neue Hardware erst im kommenden Jahr enthüllen.

Ein weiterer, immens wichtiger Zukunftsfaktor sind Spiele für Smartphones und Tablets, der Mobile-Markt wirft bereits jetzt Milliarden ab und boomt weiter. Laut einer Studie der Investmentbank Digi-Capital soll er bis 2018 zum größten Spielesegment überhaupt wachsen, mit einem Jahresumsatz von 45 Milliarden Dollar (derzeit: 29 Milliarden). Smartphone-Hits à la Clash of Clans sind aber sowieso meist kostenlos (also schnell mal ausprobiert) und erreichen über die App-Stores automatisch eine immer weiter wachsende Zielgruppe. Da muss man nicht zusätzlich auf Messen die Werbetrommel rühren. Der Boom brummt auch so.

Microsoft, Sony und die anderen, klassischen Publisher brauchen hingegen Werbung, zumindest für ihre Vollpreisspiele. Genau dafür gibt es Messen. Und deshalb feiert die Industrie auf der E3 eben das Hier und Jetzt, die Zukunft kommt noch früh genug.

Verwerflich ist das nicht. Aber überraschen kann es mich eben auch nicht.

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