Hall of Fame: Deus Ex - Shooter mit Intelligenz und Gewissen

Millionen Menschen halten Deus Ex für den intelligentesten Shooter aller Zeiten? Vorsicht, das könnte eine Verschwörung sein ...

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Mein erstes Zusammentreffen mit Warren Spector fand auf dem Mars statt. Wir hatten uns gemeinsam aus Percival Lowells Kanone auf den roten Planeten schießen lassen, und nun saßen wir in der Kapsel, Spector mit seiner Goldrandbrille, schauten hinaus auf die Sandwellen, und er sagte: »Mein Name ist Johann.« Gut, stimmte ja auch. In Origins Ultima-Ableger Martian Dreams aus dem Jahr 1991 gehört zum Mars-Expeditionsteam der bärtige Weißkittel Dr. Johann Spector, und der war nichts anderes als das digitale Alter Ego von Warren Spector, dem Producer des Spiels.

Dass Origin sich schon so früh vor dem Mann verbeugte, zeugt von Weitsicht. Bei mir dauerte es noch bis Ultima Underworld 2, dass ich den Hut zog; nach System Shock lag ich auf den Knien. Warren Spector war also bereits einer der Großen, als er 1997 zu Ion Storm wechselte, um die Arbeit an dem aufzunehmen, was sein Magnum Opus werden sollte: Deus Ex.

Ion Storm war damals ein ziemlich wilder Laden, vollgestopft mit New-Economy-Investmentgeld, geführt vom id-Aussteiger und Branchen-Großmaul John Romero und befeuert von Geltungsdrang. Deshalb durfte Spectors Team vom Fleck weg große Brötchen backen. Für Deus Ex war dieses Laissez-faire ein Glücksfall. Als Konzept existierte das Spiel seit Jahren, galt aber als unumsetzbar. 1995 hatte Spector die Idee bei Origin unter dem Namen Troubleshooter unterzubringen versucht, ein Jahr später schlug er sie Looking Glass als Junction Point vor. Beide winkten ab. Erst mit dem eigenen Team im texanischen Austin kam die Chance zur Verwirklichung, unter den Fittichen von Ion Storm. Dort lief das Spiel zunächst unter dem Arbeitstitel »Shooter«, der ironisch gemeint war: Deus Ex sollte alles andere sein als eine gewöhnliche Ballerorgie.

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Die Wurzeln des Spiels liegen in System Shock, das war die Inspirationsquelle, die Blaupause, Deus Ex die logische Weiterentwicklung. Schon System Shock hatte Ego-Shooter und Rollenspiel gekreuzt, »genre buster« nannte man einen solchen Hybriden damals, schon System Shock setzte stark auf Entscheidungsfreiheit, teils alternative Routen, Inventar und Spezialisierung. Deus Ex führte den Gedanken viel weiter. »Das Spiel fußte auf der Idee, den Spieler als Mitgestalter anzusehen, ihm Entscheidungsmacht zu geben und seine Handlungen zu akzeptieren«, beschrieb Spector später. Das war keine neue Idee, praktisch jedes Rollenspiel handhabt das so seit der Zeit, als die Bits noch mit Schlamm an die Höhlenwand gemalt wurden. Aber in Shootern war das Konzept 1997 noch unerprobt, selbst Half-Life kam erst ein Jahr später.

Es muss nicht immer Blei sein: Ahnungslose Wachen schlagen wir bewusstlos. Es muss nicht immer Blei sein: Ahnungslose Wachen schlagen wir bewusstlos.

Was es bedeutet, in einem Shooter plötzlich eine Wahl zu haben, zeigt sich ziemlich gut an der Art, wie ich Deus Ex gespielt habe. Ich liebe Shooter, ich mag es, mich knatternd durch Feindschwärme zu ballern. Aber in Deus Ex begrüßt mich mein Bruder Paul Denton im Jahr 2052 mit einer simplen Entscheidung: Welche Waffe will ich in die erste Mission mitnehmen? Ein Scharfschützengewehr, einen Granatwerfer oder eine Armbrust mit Betäubungspfeilen? Ich kann (in der Rolle des bionisch verbesserten UNATCO-Agenten J.C. Denton) auch in Deus Ex Blei und Feuer speien, ich kann dem Feind eine Maschinenpistole entreißen und fortan jeden umrotzen. Aber sobald ich die Armbrust in der Hand halte, verliert das jeden Reiz.

Ich muss also nicht töten, ich kann Menschen auch ausknocken? Das ist anspruchsvoller, ich muss schleichen, unentdeckt bleiben, Gegnern in den Rücken fallen? Hell yeah! Die Wahlmöglichkeit verändert die Spielweise, plötzlich drücke ich mich in Ecken, warte auf Feinde, bei Alarm renne ich weg und verkrieche mich. Dabei ist mir völlig bewusst, dass ich jederzeit das Sturmgewehr packen und losballern könnte, es wäre sehr viel einfacher. Aber das geht nicht mehr, nicht, wenn ich weiß, dass es eine Alternative zum Töten gibt. Aus Wissen entsteht Gewissen, selbst in dieser dummen digitalen Scheinwelt.

J.C. Denton unterhält sich mit Tracer Tong, der auf im Prequel Deus Ex: Human Revolution von 2011 vorkommt. J.C. Denton unterhält sich mit Tracer Tong, der auf im Prequel Deus Ex: Human Revolution von 2011 vorkommt.

Die ethische Entscheidung ist in Deus Ex nur angelegt, sie wird mir nicht aufgedrängt, aber sie wird – das ist wichtig – vom Spiel beobachtet. Es konfrontiert mich mit Konsequenzen. In einem Einsatz verachtet mich meine skrupellose Kollegin Anna, wenn ich Leben schone. Ich kann Anna nicht leiden, aber ihre Geringschätzung wurmt mich. Wer kaltblütig tötet, dem streicht dagegen der Versorgungsoffizier Carter die Munition. In einer Schlüsselszene befiehlt mir Anna, einen Verdächtigen zu erschießen. Wenn ich ihn dennoch erst befrage, exekutiert sie ihn vor meinen Augen. Jahre später bin ich darauf gekommen, dass ich an dieser Stelle eine dritte Alternative habe: Anna zu töten. Auch das funktioniert, das Spiel passt sich an, der Verdächtige überlebt und taucht später noch einmal auf.

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