Wir wachsen an unseren Fehlern. Das ist nicht nur ein inspirierendes Sprichwort, sondern auch zurecht die Grundlage der klassischen Heldenreise und allgemein eine gute Grundeinstellung dem Leben gegenüber. Aber was passiert, wenn wir uns so fühlen als würden wir durch jeden Fehler ein wenig kleiner werden?
Für mich sind Fehler jeder Art ein Alptraum, der mich jeden Tag verfolgt. Dagegen anzukommen braucht einen täglichen Kampf, um sich langsam mental abzuhärten. Diesen führe ich mittlerweile nicht nur im echten Leben, sondern auch in der virtuellen Welt von Final Fantasy 14, in dem ich in kontrollierter Umgebung meine Grenzen austesten kann.
Contentwarnung: Die Artikel der Mental-Health-Woche befassen sich mit verschiedenen Aspekten mentaler Gesundheit und beinhalten mitunter auch Beispiele negativer Emotionen und ungesunder Verhaltensweisen, die bei manchen Menschen negative Reaktionen auslösen können. Bitte seid vorsichtig bei Texten, die potenziell triggernde Themen für euch enthalten.
Wichtiger Hinweis: Falls ihr selbst Depressionen oder selbstzerstörerische Gedanken habt: Ihr seid nicht allein. Holt euch bitte Hilfe. Zum Beispiel bei der Deutschen Depressionshilfe unter 0800/33 44 533 oder bei kostenlosen Beratungsstellen.
Was ist das schlimmste was passieren kann? Alles!
Schon als Kind war ich immer übervorsichtig. Fehler frustrierten mich sehr stark, machten mich übermäßig traurig oder wütend. Meldete ich mich zum Beispiel in der Klasse und gab eine falsche Antwort, nagte das Wochen an mir und ich meldete mich in dem jeweiligen Fach nie wieder freiwillig.
Diese Frustration wurde über die Jahre hinweg stärker und entwickelte sich zu massiven Selbstzweifeln. Ich bekam richtige Angst Fehler zu machen. In meinem Kopf begannen selbst kleinste Missgeschicke weiter zu eskalieren und zu Horrorszenarien heranzuwachsen. Jede Klausur an der Uni verursachte Magenkrämpfe, weil ich glaubte durchzufallen, von der Uni zu fliegen, meine Eltern zu enttäuschen, enterbt zu werden und von allen verlassen bald unter einer Brücke zu liegen.
Mein Hirn durchlief jede Möglichkeit, wie etwas schiefgehen könnte und stellte am Ende die Frage: Warum nicht alles gleichzeitig? Alles unterhalb von Perfektion wurde geradezu unerträglich. Ich war niemals gut genug.
Bin ich der Fehler?
Nach meiner Zeit an der Uni zog mich immer weiter zurück, da ich das Gefühl hatte, dass andere Menschen mich irgendwie wegen meiner Unzulänglichkeiten verurteilen. Ich versuchte kaum noch etwas Neues, denn wer nichts tut, macht auch nichts falsch.
Stephan Zielke
@GamingUndKatzen
Stephan litt seit seiner Jugend aufgrund von Versagensängsten an Depressionen und konnte teilweise tagelang seine Wohnung nicht mehr verlassen. Erst in einer Therapie vor drei Jahren lernte er richtig damit umzugehen. Nur deshalb brachte er überhaupt erst den Mut auf, sich bei der GamePro als freier Autor zu bewerben, wo er euch nun schon seit zwei Jahren mit Guides versorgt. Immer noch hat er mal gute und schlechte Tage. Daher versucht er die Techniken aus der Beratung so gut wie möglich im Alltag einzusetzen, um nicht in alte Muster zurückzufallen. Videospiele spielen dabei für ihn eine wichtige Rolle, genauso wie die Unterstützung seiner Frau und Kollegen*innen.
Gitarre lernen? Jede falsche Note und verunglückte Griff schmerzte fast schon physisch. Ins Fitnessstudio gehen? Dort lachen sie mich bestimmt aus, wenn ich Übungen falsch mache. Mich um meinen Traumjob bewerben? Die nehmen mich sowieso nicht und oder werfen mich direkt raus, wenn ich den ersten Fehler mache.
Depressive Phasen wurden zahlreicher und länger, so dass ich kaum noch das Haus verließ. Langsam bekam ich das Gefühl, dass mit mir etwas nicht stimmt. Bin ich vielleicht der Fehler?
Irgendwann drifteten die Gedanken ins suizidäre ab, sodass ich mir vor ein paar Jahren professionelle Hilfe suchte. Eine wahre Erleichterung. In der Therapie lernte ich viele Techniken, um meine Gedanken weniger auf Fehler zu konzentrieren. Einen Rat, den ich erhielt, führte mich kürzlich über Umwege zu Final Fantasy 14.
MMOs als sicherer Ort
Videospiele hatten schon seit meiner Kindheit eine beruhigende Wirkung auf mich. Fehler in Spielen sind nicht permanent und lassen sich jederzeit irgendwie beheben. MMOs mochte ich immer besonders gern. Sie sind eine gute Möglichkeit soziale Kontakte zu pflegen, selbst wenn man ungern das Haus verlässt. In Menschenansammlungen fühle ich mich im echten Leben bis heute nicht wohl, in Spielen stören sie mich allerdings nicht.
Zwei Ratschläge, die ich gegen Depressionen erhielt, waren sich auf kleine Siege zu fokussieren und täglich kontrolliert herauszufordern.
Doch gerade zweiteres viel mir nie leicht. Kontrollierte Herausforderung im Alltag sind nur schwer zu bewerkstelligen. Besonders in den letzten zwei Corona-Jahren, in denen ich noch seltener das Haus verlassen konnte als zuvor.
Daher kam mir die Idee, diese Herausforderung an einem Ort zu suchen, an dem ich mich voll und ganz wohl fühle: der Welt von Eorzea in Final Fantasy 14. Dort hatte ich schon viele Jobs auf maximale Stufe gebracht. Worum ich jedoch immer einen Bogen gemacht hatte, waren die vier Tank-Jobs. Eine Rolle, bei der ein Fehler von mir sofort die gesamte Gruppe wipen kann. Also direkt zwei meiner Urängste auf einmal: Versagen und direkt damit andere Menschen enttäuschen. Ein Alptraum, aber an einem Ort, an dem ich mich wohl fühle – und genau das macht den Unterschied aus.
Tanking anxiety
Als Tank steht man an der vordersten Linie und beschützt seine Mitstreiter vor den Gegnern. Das heißt in MMOs häufig, dass die Gruppe sich auf einen verlässt. Es ist ein unausgesprochenes Gesetz, dass Tanks wissen wo es lang geht, die Bosse auswendig kennen und schnell reagieren, wenn etwas schief geht.
Durch diesen Druck sind Tanks oft die unbeliebteste Rolle in MMOs. Viele Spieler*innen fürchten die Verantwortung, dass jeder Fehler für die Gruppe sofort ersichtlich ist, was häufig als tanking anxiety bezeichnet wird. Für mich ist es jedoch perfekt, um mich täglich etwas mehr abzuhärten.
Alle weiteren Artikel aus unserer "Mental Health"-Themenwoche findet ihr hier:
Jeder Fehler ist sichtbar, aber jeder Pull ist ein Sieg
Anfangs stand ich Todesängste aus bei dem, was man in FF14 den Wall-to-Wall-Pull (kurz W2W) nennt. Dabei ziehe ich alle Gegner zusammen, bis ich eine Wand/Tür/Barriere erreicht, die sich erst öffnet, wenn alle Gegner tot sind und muss geschickt defensive Fähigkeiten rotieren oder mein Charakter liegt sofort auf dem Boden.
Die ersten Male, als ich bei diesen Manövern gestorben bin, wollte ich mich am liebsten ausloggen, das Spiel deinstallieren und mich im Bett verkriechen. Doch besonders neuen Tanks ist man in der Community immer sehr freundlich gegenüber, gerade weil es nicht viele gibt, die den Job überhaupt machen wollen. Heiler sprachen mir gut zu, dass ich es einfach nochmal probieren soll und die Gruppe lobte mich, wenn es dann bei zweiten Versuch funktionierte. Gerade dieses positive Feedback meiner Mitspieler ermöglichte mir erst die Grenzen meiner Versagensängste auszureizen, ohne darunter zusammenzubrechen.
Kleine Siege. Mittlerweile feiere ich jeden fehlerfreien W2W-Pull als einen kleinen Sieg. Habe ich einen schlechten Tag, weil ich vielleicht einen Fehler auf der Arbeit gemacht habe und nun das Gefühl habe, dass alles um mich herum zusammenbricht, dann springe ich in ein paar Dungeons. Dort ziehe ich mich mit jedem einzelnen erfolgreichen Pull, besiegten Boss, einem gut gesetzten Cooldown und jeder Auszeichnung als wertvollster Spieler aus meinem dunklem Loch.
Sogar an Extremes und Savage traue ich mich seit Kurzem heran. Das sind schwerere Versionen von normalen Kämpfen im Spiel, bei denen das Potenzial zu scheitern oder Fehler zu machen natürlich noch viel größer ist.
Kleine Schritte sind besser als stehenzubleiben
Für den einen oder anderen mag es bestimmt ein wenig lächerlich klingen, aus dem Tanken in einem MMO so eine große Sache zu machen. Denn am Ende des Tages ist tanken nicht einmal so schwer.
Aber der Kampf gegen Angst, Depressionen und Selbstzweifel ist sehr anstrengend. Auch nach einer erfolgreichen Therapie, sind sie nie ganz verschwunden. Es sind manchmal banale Dinge, die einen durch den Tag bringen und viele kleine Zahnrädchen müssen ineinandergreifen, um nicht in alte Muster zurückzufallen.
So schwappt das Selbstbewusstsein aus dem Spiel mittlerweile auch in mein reales Leben über. Wenn ich mal wieder einen Rückschlag erleide, denke ich hin und wieder an Final Fantasy 14. An irgendeinen Boss, der auf mich eingeprügelt hat und der mich nicht brechen konnte, obwohl ich zuvor durch viele Fehler an ihm gescheitert bin. Dann finde ich genug Kraft, mich nicht den ganzen Tag im Bett zu verstecken. Und das allein ist manchmal der größte Sieg.
Eine wichtige Bitte: Da es sich bei unseren Artikeln aus der Mental Health-Woche um sensible Themen handelt, die uns beim Schreiben teilweise viel abverlangt haben, bitten wir euch an dieser Stelle ganz besonders um eine freundliche und verständnisvolle Kommentarkultur. Vielen Dank und viel Spaß beim Lesen!
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