Es klingt nach einer dankbaren Überschrift, hinter der sich skandalträchtiger Inhalt verbirgt: Zwei Forscher der Purdue Universität im US-Bundesstaat Indiana wollen herausgefunden haben, dass Pokémon GO alleine die Volkswirtschaft der USA in Milliardenhöhe belastet hat - und für mehrere Hundert Todesfälle verantwortlich ist.
"Pokémon Go für Milliardenschäden und hunderte Tote verantwortlich", könnte man nun titeln. Oder schlicht: "Tod durch Pokémon GO" - wie es die Autoren der Studie Death by Pokémon GO gleich selbst schön reißerisch vorgeben.
Das würde ins Bild passen. Schließlich hat das beliebte Mobile-Game zur Markteinführung vor über einem Jahr für so einige skurrile Anekdoten gesorgt. Da sind ins Spiel vertiefte Menschen Abgründe hinuntergepurzelt, haben Verkehrsunfälle provoziert oder wurden auf der Pokémon-Jagd in dunklen Seitengassen ausgeraubt.
Allerdings gibt es berechtigte Zweifel an der statistischen Signifikanz und den Datensätzen, die der Studie zugrunde liegen. Einige davon führt die überregionale deutsche Wochenzeitung "Die Zeit" in einem ausführlichen Artikel ihrer Online-Ausgabe auf.
Datensatz wirft Fragen auf
Die gesamten Berechnungen der beiden Forscher Mara Faccio und John J. McConnell basieren auf der polizeilichen Unfallstatistik für das rund 172.000 Einwohner beheimatende Tippecanoe County. Der Datensatz stammt aus dem Zeitraum März 2015 bis November 2016. Pokémon Go kam in den USA am 6. Juli 2016 auf den Markt.
Schon hier dürften selbst Statistik-Laien stutzen: Normale saisonale Schwankungen kann die Studie so gar nicht erfassen, da es keinen echten "Kontrollzeitraum" gibt. Wer weiß, vielleicht gab es ja zwischen Juli 2014 und Juli 2015 bereits ähnliche Abweichungen in den Unfallstatistiken, und das ganz ohne Pokémon-Go-Einfluss?
Auch weitere potenzielle Störfaktoren wie Baustellen oder das Wetter lässt die Studie völlig außer acht.
Handwerkliche Fehler der Autoren?
Das weitere Vorgehen von Faccio und McConnell wirkt dann mindestens ebenso zweifelhaft. So ist in lediglich 24 Unfallberichten der Polizei überhaupt die Rede von "Handynutzung am Steuer" als Ursache - immerhin ein Hinweis darauf, dass einer der Unfall-Beteiligten Pokémon Go gespielt haben könnte, aber noch lange kein stichhaltiger Beweis.
Da selbst diese ungenaue Stichprobe jedoch zu klein ist, um daraus signifikante Ergebnisse abzuleiten, haben die Autoren einfach die Ursachen "übermüdeter Fahrer" und "abgelenkter Fahrer" mit einbezogen. So kommen sie immerhin auf 213 Fälle und lassen sich zusätzlich zur der Annahme hinreißen, dass die tatsächliche Zahl sicher noch sehr viel größer sei.
Nicht so recht ins Konzept zu passen scheint den beiden Forschern zudem die Tatsache, dass die Opferzahlen im Straßenverkehr während des Versuchszeitraums zurückgegangen sind. Deshalb stellen sie einfach die These auf, dass dieser Rückgang ohne Pokémon Go höher ausgefallen wäre - und zwar um zwei Personen.
Auf Basis dieser Annahme berechnen sie anschließend den durch die Pokémon-Go-Unfälle mit Todesfolge verursachten ökonomischen Schadenswert: Zwei Tote mal 47.000 US-Dollar durchschnittliches Jahreseinkommen von Vollzeitangestellten in den beiden Tippecanoe-County-Städten Lafayette und West Lafayette mal 80 Jahre durchschnittliche US-Lebenserwartung minus 40 Jahre Altersmedian der beiden fiktiven Toten. Ergibt gigantische 3,76 Millionen US-Dollar.
Diese Rechnung wirft gleich mehrere Probleme auf. Zum einen ist die Lebenserwartung in Indiana über ein Jahr niedriger als im US-Durchschnitt und zum anderen hätten die Forscher ein völlig anderes Ergebnis bekommen, hätten sie zum Beispiel das Durchschnittseinkommen einer ärmeren Gemeinde zugrunde gelegt.
Multiplizierte Spekulationen
Mit dem Hinweis darauf, dass das alles natürlich rein spekulativ sei, rechnen die Autoren die zurechtgebastelten 3,76 Millionen US-Dollar dann auch noch auf die gesamten USA hoch - und kommen dadurch auf den aktuell in der Presse kursierenden volkswirtschaftlichen Schaden in Höhe von zwei bis sieben Milliarden US-Dollar
Bei der Hochrechnung auf die durch Pokémon Go in den gesamten USA verursachten 140.000 Unfälle mit 256 Toten werfen Faccio und McConnell dann beliebig verschiedene Messzeiträume durcheinander, nutzen auf Theorien und Annahmen basierende Quotienten und multiplizieren munter ihre fragwürdigen Hochrechnungen mit tatsächlichen Statistiken. Ein stichhaltiges Ergebnis liefert die Studie so kaum - und dürfte wohl auch den noch ausstehenden Peer-Review-Prozess nicht bestehen.
Was ist ein Peer-Review-Prozess?
Bei einer Peer Review untersuchen unabhängige Gutachter aus demselben Fachgebiet eine wissenschaftliche Arbeit und bewerten anhand verschiedener Faktoren die Eignung des Textes zur Veröffentlichung in einer wissenschaftlichen Publikation. Häufig findet ein Doppelblindgutachten Anwendung.
Auch wenn die Problematik der Smartphonenutzung im Straßenverkehr durchaus ernst zunehmen ist, erscheint diese Studie doch zumindest fragwürdig. Oder wie es die Autoren des Zeit-Artikels so schön ausdrücken: Das sind schon keine Äpfel und Birnen mehr, die hier verglichen werden. "Das ist Fallobstkompott".
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