Nachdem ich die Tutorial-Mission absolviert hatte, brauchte ich eine knappe Stunde, um schließlich den Startpunkt der ersten richtigen Story-Mission von Watch Dogs 2 zu erreichen. Schuld daran war allerdings nicht etwa eine zu groß geratene Spielwelt, ganz im Gegenteil: Das fiktive Abbild des sommerlichen San Francisco Bay gehört wohl zu den kleinsten Open World-Sandkästen der letzten Jahre und ist selbst für Orientierungsanfänger wie mich relativ leicht zu durchblicken. Nein, der Grund für meine Verspätung war die Erkenntnis, dass ich dieser Welt und ihren Bewohnern schlichtweg herzlich egal zu sein scheine. Die spürbare Konsequenz daraus war ein faszinierendes Spielerlebnis, das ich so schon lange nicht mehr erlebt habe.
Autonome Alltagsdramen
Da draußen gibt es eine ganze Menge Open World-Spiele, die weder Kosten noch Mühen scheuen, gigantische Welten aus dem virtuellen Boden zu stampfen und uns zur Verfügung zu stellen. Aus Angst davor, den Spieler sich selbst zu überlassen, wird dabei viel zu häufig jeder freie Quadratkilometer mit zahllosen Aufgaben und Sammelgegenständen gefüllt, um uns immer und jederzeit eine Herausforderung bieten zu können. So stolpern wir in Far Cry Primal alle zehn Meter über Sklavengruppen, die gerettet werden wollen, können uns in The Witcher 3 vor (zugegeben extrem gut geschriebenen) Nebenmissionen kaum retten und stopfen in Fallout 4 schließlich tastenhämmernd unsere Taschen mit Schrott voll, der irgendwann einmal ganz bestimmt nützlich werden könnte.
Diese Spielwelten warten ungeduldig nur darauf, dass ich die aufgeploppten Ausrufezeichen über NPC-Köpfen und Blumenfeldern anklicke, denn ohne mein Zutun passiert hier kaum etwas von alleine. Es sind Open Worlds, die überfüllten Supermärkten gleichen und die an jeder Ecke mit vermeintlich unwiderstehlichen Angeboten unsere Aufmerksamkeit gewinnen wollen. Absoluter Beschäftigungs-Overkill.
Dom Schott (@R3nDom):
Dom erkundet trotz Orientierungsschwäche liebend gerne offene Spielwelten. Zahllose Quests und die nervig-traditionelle Tendenz, den Spieler in den Mittelpunkt zu rücken, lassen ihn allerdings schnell vom eifrigen Abenteurer zum genervten Einsiedler werden. Da bietet Watch Dogs 2 mit seiner so autonom funktionierenden Spielwelt eine erfrischende Abwechslung!
Watch Dogs 2 hingegen gibt mir das Gefühl, dass ich tendenziell jedem Stadtbewohner grundsätzlich erst einmal auf die Nerven gehe. Und das ist besser, als es zunächst vielleicht klingt!
In der Welt von San Francisco Bay schlüpfen wir in die Haut von Marcus Holloway, einem jungen Hacker, der sich, mit Yoyo und In-Ear-Kopfhörern bewaffnet, der Organisation Dedsec anschließt: Eine Bande begabter Technikfreaks, die die Pläne eines mächtigen Konzerns und ihrer Vision eines Überwachungsstaates durchkreuzen wollen. Doch bis es soweit kommt, sind wir vor allem nur eines: Ein extrem gut gelaunter, betont lässiger Hipster, der nicht so recht ins Stadtbild passen will, denn die Bewohner schlagen sich ihrerseits mit extrem abenteuerlichen Alltagserlebnissen herum. Ständig scheint irgendetwas los zu sein, ohne dass wir auch nur indirekt etwas damit zu tun haben.
Watch Dogs 2 - Screenshots ansehen
Während meines ersten Spaziergangs in San Francisco Bay beobachtete ich an einer großen Kreuzung, wie ein Autofahrer die rote Ampel ignorierte und mit Vollgas einen Hund überfuhr. Sofort kam der Verkehr zum Stehen, NPCs verließen ihre PKWs und versammelten sich schluchzend oder fluchend vor der Tierleiche. Auf einmal brach ein Streit zwischen dem schuldigen Raser und einer Frau aus - und während die ersten virtuellen Fäuste geschwungen wurden, marschierte ein Typ unbemerkt zu einem der stehenden Autos auf der Kreuzung und fuhr hupend mit seiner Beute davon.
Ich beobachtete diese Szenen und fasste mir begeistert an den Kopf: So viele Interaktionen passierten hier vor meinen Augen, ohne dass ich auch nur einen Finger rühren musste! Und diese Beobachtung blieb kein Einzelfall. Ich sah Autodiebe, die sich um ihre Beute stritten, ich beobachtete ein Pärchen bei ihrem Date im Park, das mit einem Kuss endete und blickte einem Straßenprediger nach, wie er lauthals aus der Bibel zitierte und von seinen Mitmenschen genervt angepöbelt wurde. Einmal verlor die Polizei sogar Interesse an meiner Festnahme, als sie während der Verfolgungsjagd an einem Banküberfall vorbeischnellten und kurzerhand ihre Prioritäten änderten: Plötzlich war es für die Gesetzeshüter wichtiger, größere Schaden bei den Geldsafes zu verhindern, statt mich, irgendeinen Hipsterjungen, dingfest zu machen. Wow!
Einfach nur dabei, statt immer mittendrin
Die letzte Spielwelt, die vergleichbar desinteressiert an mir war, bildete die Kulisse für die Geschichte von Lincoln Clay in Mafia 3: New Bordeaux ist mit ihren vielen Vierteln und Nachbarschaften ungleich größer als alles, was Watch Dogs 2 zu bieten hat und verfügt damit über noch viel mehr Platz für allerlei abenteuerliche NPC-Geschichten. Stattdessen geistern die Bewohner hieraber fast schlafwandelnd durch die Straße, spulen einen immer gleichen Schrei ab, sobald wir ihre Hitbox anrempeln und sagen brav ihre Beleidigung auf, wenn Lincoln ihnen zu Nahe kommen. Eine Atmosphäre, gegen die ein Museumsrundgang lebendiger wirkt. In New Bordeaux passiert kaum etwas von alleine, wenn wir nicht selbst mit Schießeisen, Story-Missionen oder abenteuerlichen Auto-Stunts nachhelfen.
Diese Spielwelt ist ein krasser Kontrast zur Lebendigkeit von Watch Dogs 2, die nicht einmal durch die Tatsache getrübt wird, dass klassische Mini-Spiele wie Poker oder Billard-Turniere in den Kneipen von San Franciso Bay nicht angeboten werden. Vermisst habe ich diese Alltagsbeschäftigungen bisher noch keine Sekunde, denn die spannendsten Geschichten werden draußen auf den Straßen, Kreuzungen oder in den Parks erzählt und das ganz ohne unser Zutun. Einfach nur dabei sein, statt immer mittendrin - das ist eine Abwechslung, die sich wirklich wunderbar anfühlt.
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