Künstlerische Differenzen
Doch warum all die Unterschiede? Was geht bei Resident Evil 1.5 schief? Während der Entwicklung gibt es schon in einer sehr frühen Phase künstlerische Differenzen zwischen Produzent Shinji Mikami und Teamleiter Hideki Kamiya. Der Resident-Evil-Schöpfer Mikami nimmt wiederholt Einfluss auf die Entwicklung und das Team, zieht sich später aber in eine beratende Rolle zurück und will nur einmal im Monat über den aktuellen Stand informiert werden. Eine entscheidende Idee bringt er jedoch ein: Resident Evil 1.5 soll die Geschichte abschließen und der Schlusspunkt der Serie sein.
Monate ziehen ins Land, die Entwicklung schreitet voran, das Spiel nähert sich der Fertigstellung. Nach dem riesigen kommerziellen Erfolg von Resident Evil wird man sich bei Capcom zugleich immer bewusster, was man da eigentlich für ein heißes Eisen im Feuer hat - auch wenn natürlich der spätere Erfolg der Marke mit unzähligen Nachfolgern, über 60 Millionen verkauften Spielen sowie Ablegern in Comic-, Buch und Filmform natürlich noch nicht abzusehen ist. Yoshiki Okamoto, der bei Capcom die gesamte Spieleentwicklung überwacht, möchte die vielversprechende Serie mit Resident Evil 1.5 dennoch nicht voreilig abschließen.
Er beschließt, die Resident-Evil-Welt zu einem übergreifenden Universum auszubauen, in dem sich viele unterschiedliche Geschichten erzählen lassen. Weil das Entwicklerteam hierbei jedoch kaum Fortschritte macht, beauftragt der Entwicklungschef den professionellen Drehbuchautor Noboru Sugimura als Berater. Sugimura bekennt sich als glühender Fan des Vorgängers und stürzt sich motiviert in seine Aufgabe.
Neuanfang
Schnell findet Sugimura erste Lösungen für Storyprobleme, mit denen sich das Team schon ewig herumplagt. Das beeindruckt Okamoto dermaßen, dass er den Drehbuchautor prompt bittet, das komplette Szenario neu zu schreiben. Für Resident Evil 1.5 bedeutet diese Entscheidung das Ende, nach rund einem Jahr Entwicklungszeit und auf der Zielgeraden wird die Fortsetzung eingestampft.
Während Sugimura gemeinsam mit Shinji Mikami, Hideki Kamiya und einem Teil des Entwicklerteams das Spiel von Grund auf neu plant, arbeiten der Rest am Director's Cut des ersten Resident Evil. Der ist als Entschuldigung an die Fans gedacht, verteilt fast alle Gegner und Beutegegenstand in der Villa neu und bringt neue Kostüme sowie eine Pistole, die Zombies köpft.
Das neue Resident-Evil-Team um Sugimura gestaltet derweil die Schauplätze gravierend um und verbessert die Grafik. Der Umbau ist grundlegend, nur wenige alte Materialien können weiterverwendet werden - und anderem, weil die Schauplätze extravaganter und künstlerisch wertvoller aussehen sollen. Der Hauptcharakter Elza wird zudem rausgeschrieben, die Studentin tritt in der langen Seriengeschichte nie wieder auf.
Eine weitere bedeutende Änderung ist das »Zapping System«: Claire und Leon bekommen jeweils individuelle Storyelemente und Rätsel, die alternative Szenarien freischalten. Wer eine Passage mit einem Helden erledigt hat, schaltet sie für den anderen frei - und erlebt so dieselbe Geschichte aus einer anderen Perspektive. Sogar die Verfügbarkeit von Items kann sich ändern, je nachdem, wie man zuvor vorgegangen ist. Dadurch bietet Resident Evil 2 deutlich mehr Wiederspielwert als Resident Evil 1.5, das komplett getrennte Handlungsstränge auffuhr.
Der Resident-Evil-Schöpfer Shinji Mikami, der die Handlung eigentlich abschließen wollte, kann mit dem Neustart und den Änderungen augenscheinlich gut leben. Er wird später das Gameplay und die Schauplätze von Resident Evil 1.5 als »dumm und langweilig« bezeichnen. Dieses Urteil will sich uns im Rückblick nicht so ganz erschließen, vielmehr klingt es nach einer nachträglichen Rechtfertigung. Resident Evil 1.5 wäre wohl düsterer und spielerisch abwechslungsreicher geworden als das Resident Evil 2, das schließlich im Laden steht.
Die offizielle Fortsetzung sieht dafür schöner aus und ist natürlich der bessere Grundstein für die Zukunft der Marke. Doch auch das alte Resident Evil 1.5 macht noch einmal von sich reden: 2012 bekommen Modder den Quellcode der unsanft verstorbenen Version in die Hände und machen sich daran, es fertigzustellen - und zwar kostenlos. Noch dazu beheben sie Bugs, übersetzen Texte, vertonen Dialoge.
Nachdem auf eBay Kopien der Fan-Restauration zum Verkauf angeboten werden, veröffentlichen die Macher Anfang 2013 sogar eine erste spielbare Version. Seither laufen die Arbeiten weiter, immer wieder werden neue Infos verteilt, und es gibt Screenshots und Videoschnipsel zu sehen. Eines Tages wird das verlorene Resident Evil 1.5 ganz bestimmt auferstehen. Wie es sich für einen Untoten nun mal gehört.
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