Ich kann sie nicht mehr sehen, die immer gleichen, jungen Held*innen oder grau-melierten, "erfahrenen" Männer à la Joel Miller, Nathan Drake, Kratos, Geralt und Co. Mir als Spieler Mitte Dreißig wird im AAA-Bereich kaum noch etwas gezeigt, was ich nicht schon irgendwie kenne - und das nervt mich. Ich wünsche mir mehr alte Heldinnen in Spielen, denn sie haben für mich das Potenzial, mir endlich neue Eindrücke zu vermitteln.
Es geht mir nicht um Repräsentation
Das mag jetzt vielleicht seltsam klingen, aber mir geht es dabei überhaupt nicht um Repräsentation. Diese ist grundsätzlich und aus vielerlei Gründen natürlich sehr wichtig, aber in diesem Fall hat mein ganz persönliches Bedürfnis nach alten Heldinnen andere, egoistische Gründe. Ich möchte neue Spielerfahrungen sammeln und noch nicht erzählte Geschichten erleben. Die klassischen Held*innenreisen und Selbstfindungstrips junger Protagonist*innen habe ich, wenn noch nicht in sämtlichen, dann doch zumindest in mehr als genügend Variationen gespielt, gesehen und gelesen.
Auch alte Frauen haben spannende Geschichten zu erzählen: Gealterte Frauen bieten genau so gute Storytelling-Optionen wie ihre männlichen Pendants. Trotzdem gibt es bisher deutlich mehr spielbare Männer als Frauen, was anhand einer Auswertung von Feminist Frequency bestätigt wird: 2020 standen 18% weibliche Charaktere 23% männlichen gegenüber - die restlichen 59% entfallen auf nicht-binäre und geschlechtsunabhängige Wahlmöglichkeiten, z. B. durch Charakter-Editoren.
Die Jahre davor kamen weibliche Charaktere nicht einmal in den zweistelligen Bereich. Werfen wir den Blick auf das Alter dieser wenigen Heldinnen, kristallisiert sich schnell heraus, dass ein starkes Altersgefälle besteht. Das berechtigte Lob, das Returnal mit seiner Protagonistin Selene als Ausnahmebeispiel einfährt, bestätigt diesen Umstand nur.
Somit wird mir als Spieler, der sich gerne empathisch weiterentwickeln und neue Perspektiven kennenlernen möchte, hierzu kaum etwas entsprechendes geboten. Es gibt einige Nebenfiguren und Begleiterinnen im gehobenen Alter, wie Maria in The Last of Us 2, Wynne in Dragon Age: Origins oder Eydis, die Vorsteherin der Baracken in Assassin's Creed Valhalla. Diesen kann aber kaum so viel Story wie einem spielbaren Hauptcharakter verliehen werden, dessen Narration im Mittelpunkt des jeweiligen Spiels steht.
Omas gibt es fast nur in Indie-Spielen
Im Indie-Bereich wurde bereits mehr experimentiert als bei den großen Entwicklungsstudios. Aber auch hier muss ein wenig gesucht werden, um auf wirklich alte Frauen zu stoßen. Ein paar Beispiele, die in die richtige Richtung gehen, habe ich aber gefunden:
In dem kurzen Kunstspiel "The Graveyard" steuert ihr eine Greisin, die lediglich mit ihrem Gehstock langsam über einen Friedhof geht, sich auf ein Bank setzt, einem Lied lauscht, den Weg wieder zurückgeht … und die im Spiel jederzeit sterben kann. Das Horrorspiel "The Cat Lady" lässt euch die verstörende Geschichte einer überzeugenden Protagonistin Mitte 40 nachempfinden, die versucht, mit all dem Schmerz und der Traurigkeit in ihrem Leben fertig zu werden - und das vollkommen klischeebefreit.
Hinweis: "The Cat Lady" befasst sich mit Themen wie Suizid und Depression. Das Spiel enthält diverse potenzielle Trigger für Menschen, die selbst mit Traumata zu kämpfen haben.
Ganz besonders freue ich mich auf die beiden noch nicht erschienenen Spiele "Lake" und "Blueberry". Das Adventure "Lake" handelt von der knapp 40 Jahre alten Programmiererin Meredith Weiss, die für zwei Wochen zurück in ihre kleine Heimatstadt zieht, in der sie manches aus ihrer Vergangenheit auf- und viel Neues verarbeiten muss. Während Lake eher ein "Feel Good"-Spiel mit einer interessanten Protagonistin ist, befasst sich der storylastige Platformer "Blueberry" mit ernsten, familiären Themen und Traumaverarbeitung. Es beleuchtet das gesamte Leben einer Frau, von der ersten Kindheitserinnerung an, bis zum Tod.
Das sind nur eine Handvoll Beispiele. Selbst mit diesen gibt es nur wenige Protagonistinnen, die im mittleren Alter sind oder deren gezählte Jahre überhaupt jenseits der 40 liegen.
Michael Beck
@Bossinsky
Michael findet die meisten AAA-Storys ziemlich durchschaubar. Weil er andere Geschichten und neue Erfahrungen erleben möchte, fühlt er sich seit langem mit Indie-Spielen wohler. Alte Heldinnen gibt es zwar auch hier noch zu wenige, aber deutlich mehr als im Mainstream.
Grenzenlose Möglichkeiten durch Fiktion
Action, Omi! Gäbe es mehr Entwicklungsstudios, die sich den Belangen der älteren Generationen annehmen würden, könnten auch vielfältigere Geschichten erzählt werden. Warum nicht mehr alte Action-Frauen als spielbare Charaktere? In digitalen Welten ist schließlich alles möglich. Ein hohes Alter der Spielfigur stellt also keine Einschränkung dar, sondern bietet die Möglichkeit zu einer Hintergrundgeschichte, die auch zu einer betagten Frau passt. Die Optionen sind grenzenlos, vorausgesetzt, jemand nimmt sich der Sache an.
Ich kenn' das alles schon
In Videospielen bin ich nicht nur auf der Suche nach Eskapismus, sondern auch nach neuen Erlebnissen. Junge Held*innen und alte Herren habe ich mittlerweile mehr als genug gespielt, alte Frauen fallen mir dagegen kaum ein. Sind sie spielbar, wie Mom in Back 4 Blood oder Helen Dashwood in Watch Dogs Legion, stehen ihre Geschichten in aller Regel im Hintergrund. Daher denke ich, dass es hier noch eine ganze Menge Neues zu erzählen gibt.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass nicht nur ich das Bedürfnis nach bisher unbekannten Geschichten anstelle der tausendsten Coming-of-Age- oder Bromance-Story habe. Das heißt natürlich nicht, dass jetzt jede Protagonistin eine alte Frau sein muss. Es gibt mehr als genug Platz für alle. Ich freue mich jedenfalls auf viel mehr alte Heldinnen.
Dieser Artikel ist Teil unserer Held*innen-Themenwoche, die noch bis zum 13. August 2021 läuft und euch täglich spannende neue Artikel rund um das Thema Videospiel-Charaktere präsentiert. Alle Artikel unserer Held*innen-Themenwochen findet ihr hier in der Übersicht.
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