Mein Herz für Klassiker - Ich, The World Ends With You & tödliche Graffitis

In unserer Reihe Mein Herz für Klassiker blickt Imanuel auf seine Kindheit zurück und erzählt, wie ein einziges Spiel seine komplette Weltsicht auf den Kopf stellte.

Mein ganz persönliches Herz für Klassiker geht an The World Ends With You. Mein ganz persönliches Herz für Klassiker geht an The World Ends With You.

Ich bin ein vergesslicher Mensch. Ich habe über 17 Jahre gebraucht, um mir den Geburtstag meiner Mutter zu merken (mit dem meines Vaters hapere ich heute noch), wasche mir manchmal mehrmals hintereinander die Haare und wurde schon oft von Anrufen durch Freunde, Arzthelfer und Arbeitgeber geweckt, die wissen wollten, wo ich denn bleibe. Für Menschen wie mich wurde das obere Abflussloch im Waschbecken erfunden. Wenn ich also sage, dass mir The World Ends With You nach zehn Jahren noch so im Kopf geblieben ist, als hätte ich es erst gestern gespielt, dann könnt ihr euch darauf verlassen, dass das Spiel etwas wirklich Besonderes für mich ist.

Gefangen in einem Spiel um Leben und Tod

Ich erinnere mich noch daran, wie der Jugendliche Neku Sakuraba ohne Erinnerungen plötzlich mitten auf einer Kreuzung im japanischen Distrikt Shibuya aufwacht und einen Timer auf seiner Hand entdeckt, der kontinuierlich nach unten tickt. Schnell wird klar, dass er als Teilnehmer in einem zynischen Spiel um Leben und Tod gefangen ist. Die Reaper, Drahtzieher dieses Spiels, sperren die Geister verstorbener Menschen in einer Art paralleler Alltagswelt ein. Innerhalb dieser können sie zwar das Geschehen von unbetroffenen Menschen verfolgen, dabei allerdings nicht von ihnen wahrgenommen werden.

Jeweils zwei dieser Player müssen über eine Woche hinweg täglich Missionen erfüllen, bevor der Timer auf der Hand abläuft. Erreicht der Countdown sein Ende, finden sie ihres. Zusätzlich dazu hetzen Reaper Graffiti-Monster, die sogenannten Noise, auf Spieler los. Um sie zu überleben, müssen sich zwei Player zusammenschließen, denn alleine haben sie keine Chance. Den Gewinnern der Woche winkt die Chance auf die Rückkehr in die reale Welt.

Mit diesem Anblick wird Neku in ein zynisches Turnier um Leben und Tod geworfen. Mit diesem Anblick wird Neku in ein zynisches Turnier um Leben und Tod geworfen.

Ein Spiel, das mich zum Nachdenken brachte

Damals wurde mir schnell klar, dass The World Ends With You anders als alle Spiele war, die ich zuvor erlebt hatte. Die Geschichte war düster und der Tod allgegenwärtig. Ich verlor Partner, wurde von guten Freunden verraten und kam langsam dem Grund auf die Schliche, woran Neku ursprünglich überhaupt gestorben war. Stets wurde ich von neuen Hintergründen, Beweggründen und Wendungen überrascht, die so gar nicht in meine damalige Schwarz-Weiß-Einteilung der Welt in "gut" und "böse" passen wollten.

Damals war meine Welt noch einfach: Ich als strahlender Held sollte meist irgendeinen verhassten Bösewicht ausschalten und die Welt retten. Doch plötzlich verlangte ein Spiel von mir, in der Rolle eines unsympathischen Eigenbrödlers gegen Menschen zu kämpfen, deren Motive ich selbst nachvollziehen konnte. Zusätzlich sah ich Charaktere, die sich gegenseitig hintergingen oder laufend zwischen der Player- und Reaper-Seite wechselten.

Charaktere mit Charakter

Auch meine Partner entsprachen nicht dem, was ich gewohnt war. Die optimistische Shiki, die wie ein Leuchtfeuer in dieser melancholischen Welt schien, kritisierte Neku ständig für seine emotionale Gleichgültigkeit. Und sie hatte Recht. Zum ersten Mal konnte ich mich nicht mehr mit der Spielfigur identifizieren. Doch Neku veränderte sich im Verlauf der Geschichte auch, öffnete sich und schloss Freundschaften mit weiteren komplexen Figuren. Das kannte ich so einfach noch nicht.

Das Spiel ließ mich eine erwachsenere Geschichte rund um Verlust, Schmerz und Freundschaft erleben. "So fühlen sich Erwachsene, wenn sie bei einem Glas Wein Shakespeare lesen und dazu klassischer Musik lauschen!" Das dachte ich zumindest mit meinen 13 Jahren. Als jemand, der zuvor nur die eindimensionale Prinzessin aus Mario vor einem ebenso einfach gestrickten Bösewicht retten oder als Affe in Donkey Kong Country Bananen hinterherjagen musste, verlangte ein Spiel plötzlich von mir, mich kritisch mit Themen wie Tod, Schuld und Wiedergeburt zu beschäftigen.

Ein Art Design, wie für mich geschaffen

Als jugendlicher Kingdom Hearts-Fan, der nachmittags immer Animes wie Naruto und One Piece auf RTL2 verfolgte, traf der der Grafikstil genau meinen Nerv. Das ist auch nicht verwunderlich, schließlich wurde The World Ends With You vom Kingdom Hearts-Team entwickelt, während die Designs der Figuren von Final Fantasy-Artist Tetsuya Nomura entworfen wurden. Ich fühlte mich sofort zu Hause.

Doch auch das urbane Shibuya sprühte nur so vor Charakter und japanischer Jugendkultur, schließlich orientierten sich die Entwickler detailgetreu am realen Distrikt Tokios. Da waren die verwinkelten Fußgängerzonen, an deren Häuserwänden sich urbane Graffitis durch die Fußgängerzonen schlengelten. Hunderten Menschen, die mich durch ihr gleichzeitiges Wuseln über die Straßenkreuzungen so einsam fühlen ließen. Der kreative Tribal-Tattoo-Look der Noise, der mich gleichermaßen einschüchtern und beeindrucken konnte. Zum ersten Mal fühlte ich mich genau wie Neku als Einwohner Shibuyas, gefangen im tödlichen Spiel, besorgt um "meine" Freunde. Diese Art der Identifikation konnte bis heute kein anderes Spiel mehr bei mir erreichen.

Ich könnte noch Ewigkeiten über das bis heute einzigartige Anstecknadeln-basierende Kampfsystem schwärmen, in dem ihr Neku per Touchscreen und seinen Partner per Digi-Pad gleichzeitig steuern konntet. Oder den genialen Soundtrack, der mit einer unerwartet harmonischen Vielfalt aus Rock, Hip Hop, J-Pop und sogar Techno eine beeindruckend eigenständige Identität beibehielt und genau meinen jugendlichen Nerv traf. Da ich damit aber locker ein zweites Herz für Klassiker vollschreiben könnte, lasse ich den Soundtrack lieber für sich selbst sprechen:

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Ein Schimmer der Hoffnung

Für mich ist The World Ends With You nicht nur einer der packendsten Titel, die ich je gespielt habe, sondern auch eine meiner Sprossen in der Leiter des Alterns. Weil mich das Spiel erstmals zum Reflektieren bewegte, meine Glaubenssätze auf den Kopf stellte und mich so sehr in den Bann seines Universums zog, werde ich es niemals vergessen können. Vielleicht hat der Geburtstag meines Vaters dann ja auch eine Chance...

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