Trend: sich nicht festlegen
Dass wir so wenige Spiele mit weiblichen Hauptpersonen sehen, liegt - wie die Zahlen zeigen - zu einem nicht unerheblichen Teil daran, dass viele Spiele und Reihen sich gar nicht auf eine vordefinierte Hauptperson festgelegt haben, sondern stattdessen auf Charakter-Editoren oder zumindest gemischte Kader oder wählbare Heldinnen und Helden setzen: Da wären beispielsweise Mass Effect, Skyrim, Animal Crossing, Until Dawn, Monster Hunter, Mario Kart oder Dark Souls, um nur ein paar Vertreter zu nennen.
Auch Assassin's Creed springt schließlich auf den Zug auf. Das langlebige Franchise war über Jahre stark männerdominiert. Auch in Origins aus dem Jahr 2017 war Aya noch der Sidekick ihres Mannes Bayek. In Odyssey können wir 2018 dagegen wählen, ob unsere Hauptfigur Kassandra oder Alexios sein soll. Zunächst sollte Kassandra jedoch die einzige Protagonistin sein.
Die Option, Alexios spielen zu können, wurde laut einem Bericht von Bloomberg-Journalist Jason Schreier nur hinzugefügt, weil der damalige Chief Creative Officer Serge Hascoet die Meinung vertrat, das Spiel würde sich mit einer weiblichen Hauptperson allein nicht verkaufen. Wir haben das im Artikel Assassin's Creed rückt Frauen in die zweite Reihe & das ist ein Problem zusammengefasst.
In der Resident Evil-Reihe sehen wir aktuell sogar einen Trend weg vom gemischten Team, hin zu einem einzigen männlichen Helden: Bereits das erste Spiel aus dem Jahr 1996 ließ uns zwischen Chris und Jill wählen. Seither hat die Reihe das Konzept mit mehreren Hauptpersonen in den meisten Auskopplungen fortgesetzt - zumindest bis zu den letzten beiden Ablegern.
In RE7 aus dem Jahr 2017 ist Ethan der einzig wirkliche Protagonist. Mia ist zwar in einem kurzen Abschnitt spielbar, nimmt aber eine ähnliche Rolle ein wie Aya in Assassin's Creed. Übrigens setzen beide Franchises beim ersten Titel der neuen Dekade erneut auf dasselbe Konzept: In AC können wir wieder das Geschlecht wählen, in Resi gibt es nur Ethan (neben einer kurzen Passage mit einem weiteren Helden).
Vor- und Nachteile von Editoren
Der Trend zum Charakter-Editor ist allgemein begrüßenswert, weil er dafür sorgt, dass Spielende aktiv eine Figur erstellen können, mit der sie sich wohlfühlen - zumindest wenn der Editor genügend Features bietet. Mit dem Thema der Editoren und ihren Limitationen befasst sich Nina Kiels Artikel Charakter-Editoren sind kreative Gefängnisse trotz komplexer Möglichkeiten.
Es gibt auf der anderen Seite allerdings auch Spiele und Geschichten, die enorm von einer klar definierten Hauptperson profitieren, mit der wir genug Zeit verbringen, um sie richtig kennenzulernen. Dazu gehören vor allem Games mit einem starken Storyfokus, die nicht in die Kategorie Rollenspiel fallen.
In Umfragen und Diskussionen wie beispielsweise hier auf Reddit oder im Forum des Magazins the escapist zeigt sich, dass viele Spielende finden, dass es ganz klar auf das Spiel ankommt, ob ein Editor Sinn ergibt oder eine vordefinierte Hauptperson die Geschichte spannender macht. Es gibt auch Spielerinnen und Spieler, die letztere Variante klar bevorzugen - und bei dieser Art von Spiel besteht immer noch ein Mangel an Studios, die sich zu weiblichen Helden bekennen.
Qualität statt Quantität?
Nachdem wir uns nun die Zahlen und den Trend zum wählbaren Charakter oder gemischten Charakterfeld angeschaut haben, werfen wir mal einen Blick auf einige Protagonistinnen, die wir in der letzten Dekade gesehen haben und fragen uns: Was macht eigentlich eine gute Protagonistin aus?
Unter Berücksichtigung eines Querschnitts wissenschaftlicher Artikel (u.a. Mildred Perreault und Team (2021), Mildred Perreault und Team (2016), Friedberg (2015)) lässt sich auf folgende Qualitätsmerkmale für die Darstellung von Heldinnen schließen:
- Eine starke Agenda. Also: Hat die Protagonistin ein interessantes Ziel vor Augen?
- Ein passendes Narrativ. Soll heißen: Bekommen wir eine sinnstiftende Erzählung geboten?
- Eine nicht sexualisierte Darstellung.
Mit diesen drei Merkmalen im Hinterkopf schauen wir uns einige Trends und Entwicklungen an, wobei es natürlich in allen drei Punkten Interpretationsspielraum gibt.
Lara als Spiegelbild der Dekade
Seit den 90er-Jahren gilt: Jede Dekade hat ihre Lara Croft - und anhand ihrer Entwicklungen lassen sich die Veränderungen in der Videospielwelt ganz gut nachvollziehen. An ihrer Darstellung wurde jede Menge geschraubt. In den 90er-Jahren war Lara eine zwar beliebte, aber auch polarisierende Heldin mit extremen Proportionen und flapsiger Art. Die Spiele setzten - für ihre Zeit typisch - auf Überzeichnung und Action, weniger auf die Geschichte.
Die Lara der 2000er-Jahre war eine nur vorsichtig überarbeitete neue Version des Originals: Ein bisschen mehr Hintergrundgeschichte, leicht angepasste Proportionen. Das sexy freche Image blieb. Mit dem zweiten Tomb Raider-Reboot 2013 folgt der große Umbruch: Lara ist optisch erneut angepasst, ihr Charakter ist nun viel facettenreicher und ihre Hintergrundstory weiter ausgearbeitet und empathischer erzählt.
Lara ist natürlich nicht die einzige starke Heldin: Im Jahr 2017 treten beispielsweise in Horizon Zero Dawn und Hellblade: Senua's Sacrifice zwei ganz neue Heldinnen an, die es in Sachen Mut und Zähigkeit locker mit Lara Croft aufnehmen können.
Aloy und Senua gelten beide in ihrer Gesellschaft als Ausgestoßene. Sie sind unabhängige Einzelkämpferinnen und haben gute Gründe, sich in ihr persönliches Abenteuer zu stürzen. Die eine will mehr über sich und ihre Welt erfahren, die andere ihren Geliebten von den Toten zurückholen. Auch abseits des AAA-Bereichs setzen Indie-Spiele wie Celeste, What Remains of Edith Finch oder Gone Home auf Protagonistinnen.
Differenzierte Darstellung
Zudem lässt sich feststellen, dass uns immer mehr Titel die ambivalenten und nuancierten Gefühlswelten ihrer Protagonistinnen präsentieren, was übrigens auch für ihre männlichen Kollegen gilt.
Ein gutes Beispiel hierfür ist die Entwicklung von Kratos im neuesten God of War von 2018. Diese zuvor oft nicht dagewesene Tiefe führt zu einer differenzierten Darstellung. Wir erleben zudem Heldinnen, die anderen Menschen etwas voraus haben, dabei aber nicht nur den Vorteil genießen, sondern uns gleichzeitig erleben lassen, wie es ist, die schwere Last der damit verbundenen Verantwortung zu tragen.
Da wären zum Beispiel Ellie in The Last of Us aus dem Jahr 2013, aber auch Max aus Life is Strange von 2015 und erneut Aloy zu nennen. Ellie ist immun gegen den Parasit, der Menschen auf der ganzen Welt in Zombies verwandelt, Max kann die Zeit zurückspulen und Aloy findet ein kleines technisches Gerät, den Fokus, mit dem sie mehr über die Welt erfährt als ihre Mitmenschen wissen.
Dass diese Protagonistinnen damit viele andere retten können, ist an sich eine großartige Sache, aber manchmal auch eine Bürde. Ihre Zweifel und inneren Kämpfe werden in den Spielen thematisiert.
Fazit: Was schließen wir aus all dem?
Fassen wir alles zusammen, so zeigen sich vor allem drei Aspekte:
- Spiele mit einzig allein weiblichen Helden waren in der Dekade stark in der Unterzahl.
- Spiele mit Charakter-Editor oder gemischten Ensembles sind immer stärker im Trend, was sicherlich begrüßenswert ist, wenn die Umsetzung stimmt.
- Die Zeiten ändern sich und mit ihnen die Ansprüche der Spielenden, was sich zunehmend in Spielen widerspiegelt. Videospiele werden visuell immer realistischer, haben mehr Möglichkeiten und werden als wichtiges Kulturgut anerkannt. Daraus folgen unter anderem höhere Anforderung an die Geschichten, die vermittelt werden: Viele Spielende möchten sich repräsentiert sehen und wünschen sich facettenreiche und glaubwürdige Charaktere.
Der öffentliche Diskurs und die veränderten Verbraucherwünsche haben dafür gesorgt, dass sich der Fokus der Entwickler*innen in den letzten Jahren verschoben hat. Immer mehr Studios versuchen, diverse Optionen in ihre Spiele zu integrieren. Dieser Trend könnte sich in den nächsten Jahren noch weiter verstärken. Eventuell werden wir auch bei Titeln, die über vordefinierte Charaktere verfügen, künftig weniger Spiele sehen, in der nur eine Figur spielbar ist und alleine die Hauptrolle übernimmt.
In jedem Fall ist zu hoffen, dass der Ansatz, alle Spielenden mitzunehmen, fortgesetzt und weiter ausgebaut wird. Wichtiger als einfach nur die Anzahl an männlichen und weiblichen Protagonisten anzupassen, ist, dass sich künftig alle Spieler*innen in Spielen wiederfinden.
Wie haben euch die Heldinnen der letzten Dekade gefallen und wünscht ihr euch mehr vordefinierte Charaktere oder gefällt euch der Trend zum Charakter-Editor?
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