Die erste Mondlandung? Eine Fernseh-Fälschung! Der 11. September? Inszeniert! Kondensstreifen am Himmel? Chemtrails! Manche Verschwörungstheorien halten sich hartnäckig, sind international verbreitet und werden von vielen Menschen als Wahrheit angesehen. Auch um die Welt der Computer- und Videospiele ranken sich solche spannenden, glaubwürdig vorgetragenen Mythen über heimliche Manipulation.
Eines der wohl berühmtesten Gerüchte ist das sogenannte FIFA Momentum (auch »Scripting« genannt). Geheime Algorithmen sorgen in der Fußball-Simulation von EA angeblich dafür, dass Spiele nur so enden, wie von den Entwicklern gewünscht. Plötzlich rutschen den Torhütern Kullerbälle durch die Hände, Abpraller landen stets beim Gegner, Mannschaften verlieren nach einer hohen Führung völlig ihre Form und ein Spiel wird in der Nachspielzeit gedreht. Schiebung auf dem virtuellen Rasen also. Solche Situationen, in denen sich scheinbar das ganze Spiel gegen einen verschworen hat, kennt wohl jeder Spieler, aber was ist wirklich dran am Momentum-Mythos?
Mehr als eine Randerscheinung
Ein Blick ins Internet zeigt, dass nicht nur eine Minderheit virtuellen Betrug wittert. Bei Eingabe des Suchbegriffs "FIFA Momentum" spuckt Google fast eine Million Treffer aus! Diese Diskussion ist so alt wie die FIFA-Reihe selbst. Vermutlich wird es auch in FIFA 17 wieder Spekulationen über das Momentum geben. Egal ob im offiziellen EA-Forum oder auf Facebook-Fanseiten: Unzählige Fans echauffieren sich über seltsame Spielszenen, die sie dem Momentum zuschreiben. Die Kundenbewertungen bei Amazon sind ebenfalls voll von derartigen Berichten: Neben schwacher KI und schlechten Schiris gehört das Momentum zu den Hauptkritikpunkten der Rezensenten. Fast die Hälfte der FIFA 16-Käufer haben das Spiel beim größten Online-Händler mit nur einem Stern bedacht.
Na ja, das sind halt frustrierte Spieler, könnte man denken, doch selbst E-Sportler wie Antonino »dawnsson« Sammarco sind von der Existenz des Schummel-Codes überzeugt, wie Sammarco selbst in einem Interview mit kicker eSport sagt: »[...] ich denke es passiert fast allen Spielern, dass sie wegen ›Momentum‹ gewonnen haben. Das zeigt einfach nur, dass mittlerweile die komplette Community von dem Momentum Bescheid weiß.« Gibt es das Momentum also wirklich?
Die dunklen Mächte aus dem Hintergrund
FIFA-Producer Aaron McHardy hält klar dagegen: »Es gibt kein Momentum. Das sind wahrscheinlich Programmfehler, die zu einer schlechten Ballphysik oder Bewegungsumsetzung führen können.« Machen wir uns nichts vor: So realistisch ein Spiel auch ist, es bleibt ein Computerprogramm. Was wir auf dem Bildschirm sehen, ist nur das Ergebnis unzähliger Berechnungen, von man als Spieler nie etwas erfährt.
Das ist im Idealfall jedoch kein mysteriöser Entwickler-Trick, sondern nachvollziehbare Mechanik: Ob der Axthieb in einem Rollenspiel beispielsweise überhaupt trifft und wie viel Schaden er anrichtet, darüber entscheidet das virtuelle Regelwerk - und nicht immer wird die zugehörige CPU-Denkweise dem Konsumenten auch plakativ per Zahleneinblendung kommuniziert.
Manchmal ist es sogar von Vorteil, die Virtuelle-Realität etwas zurechtzubiegen: Der berühmt-berüchtigte Gummiband-Effekt in Rennspielen lässt die KI-Piloten stets aufholen, damit der Ausgang des Rennens stets spannend bleibt - und nicht, weil die Entwickler es böse mit uns meinen.
Theoretisch wäre ein Feature wie das Momentum also nicht zwangsweise schlecht: Wie in der realen Fußballwelt wollen die Sportfans packende Partien und legendäre Comebacks in letzter Minute sehen - keine ständigen Kantersiege des FC Bayern oder langweilige 0:0. Und irgendwie wäre es ja auch realistisch, wenn die Polygon-Nachbauten solcher Überathleten wie Manuel Neuer oder Lionel Messi auch mal Fehler machen. Zudem hätten auch schwächere FIFA-Besitzer eine erhöhte Chance auf Erfolgserlebnisse.
Komplexität als Hindernis
»Wenn ich wüsste, wie ich diesen Algorithmus entwerfen sollte«, gibt Aaron Hardy unumwunden zu, »dann wäre ich ein Gott unter den Entwicklern!« Denn: Eine Technik, die nicht nur automatisch, sondern auch sinnvoll in virtuelle Fußball-Partien eingreift, ist kaum zu realisieren. Zu viele Parameter nehmen Einfluss auf die Geschehnisse, als dass man sie in Programmcode gießen könnte - vom Talent der beiden Kontrahenten über die Wahl der Mannschaften, Taktiken und Spieler bis hin zum stets individuellen Spielverlauf.
Wie schon eingangs erwähnt gehören die KI und die Schiedsrichter noch immer zu den größten Kritikpunkten am aktuellen Fifa - wenn EA Sports solche fundamentalen Aspekte nicht in den Griff bekommt, kann man ihnen dann zutrauen, feinfühlige, individuelle Spielmanipulation zu betreiben?
Warum schwören dann trotzdem viele FIFA-Besitzer Stein und Bein, vom Momentum heimgesucht worden zu sein? Die Antwort liegt vermutlich in der Psychologie des Menschen: Wir verlieren einfach ungern und suchen die Schuld dafür gerne bei anderen. Schließlich tut es deutlich weniger weh, einen Programmiertrick für das eigene Scheitern verantwortlich zu machen, als sich einzugestehen: Diese haushohe Führung habe ich selbst vergeigt! Das ist eine unangenehme Wahrheit, aber letztlich wohl doch die Wahrheit.
Der FIFA-Profi Alexander »bono« Rauch spricht aus Erfahrung, wenn er im Gespräch mit kicker eSport konstatiert: »Das ominöse ›Momentum‹ taugt wunderbar zur Ausrede, mehr aber auch nicht. [...] Ohnehin ist es in diesem Kontext wohl das Gesündeste, alle Fehler immer erst bei sich zu suchen und im Zweifelsfall lieber einmal mehr als notwendig.«
Selbst der legendäre Designer Sid Meier (Civilization) bezeichnete die Gewinnerwartungen der Spieler in einem Vortrag auf der GDC-Messe als übertrieben: Wenn die Sieg-Chancen bei einem Gefecht mit 75 Prozent tituliert würden, dann rechneten viele Spieler mit einem sicheren Triumph - obwohl ja noch 25 Prozent Restrisiko bestünden. So gehen also auch einige FIFA-Zocker mit Sicherheit davon aus, einen schwächeren Gegner zu schlagen. Niederlage werden dann nicht akzeptiert und der Willkür des Entwicklerteams zugeschrieben.
Und warum geben wir dann sicher geglaubte Siege plötzlich aus der Hand? Verspielen eine 2:0-Führung in der letzten Minute? In den Communitys von Counter-Strike und Dota 2 spricht man in solchen Situationen nicht von Momentum, sondern von Choking: Damit bezeichnet man keinen Computer-Algorithmus, sondern die menschliche Macke, unter Druck Fehler zu machen. Schon ein unglückliches Gegentor reicht, um in uns die Zweifel zu nähren. Wir werden nervös und fangen uns das nächste Tor. Dieses Phänomen kann man nicht zuletzt auch im realen Fußball oft genug beobachten.
Protest aus Prinzip
Ein weiterer Beweggrund für den Ärger vieler Spieler: FIFA stammt von Electronic Arts - und der Mega-Publisher ruft bei nicht wenigen Kunden offenkundig Misstrauen hervor. Je größer und erfolgreicher ein Unternehmen, desto eher verdächtigt man es der Unehrlichkeit. Und wenn dann Community-Mitglieder im Internet über ihre Erlebnisse berichten, verselbstständigt sich das Thema: Fundierte Gegenargumente werden aber leider oft ignoriert oder gar zu Beweisen umgedeutet. Wer gerade eine unglückliche FIFA-Schlappe einstecken musste, der entdeckt passende Berichte in Foren und grübelt ebenso über die mögliche Existenz des Momentum nach.
Auffällig dabei: Besonders Online-Matches sollen vom Momentum betroffen sein - was ebenfalls rein psychologische Hintergründe haben kann. Denn wenn man nicht direkt neben seinem Widersacher sitzt, muss sich der Unmut über eine Niederlage zwangsläufig woanders entladen. Eine direkte, die Emotionen abmildernde Diskussion nach dem Duell fehlt zumeist.
Ein von den Entwicklern gewolltes, im Geheimen vor sich hin werkelndes FIFA-Momentum, das gibt es wohl tatsächlich nicht. Vielmehr ist die Fußball-Simulation ein überaus kompliziertes Konstrukt aus unzähligen Features und Programmelementen, die im Zusammenspiel eben auch mal wenig nachvollziehbare Dinge produzieren können. Für die einen ist das dann vielleicht Momentum, für die anderen einfach nur verdammtes Pech.
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