In Spielen bin ich unverwundbar. Oder fühle mich jedenfalls so und kann daher zumindest mittelbequem über dem Geschehen schweben. Selbst in einem erzählerischen Meisterwerk wie The Witcher 3, das eigentlich voller harter Entscheidungen steckt und mich auch mit gnadenlosen Konsequenzen für mein Tun nicht verschont. Aber letztlich bin ich eben doch ein mutierter Monstertöter, der völlig absurde Dinge treibt.
Ich muss mich etwa entscheiden, ob ich einem pulsierenden Herzen unter einem Baum oder einem Gemälde von drei Hexen mehr vertraue. Und ja, das ist eine großartige Quest. Ich habe eine ganze Weile darüber gegrübelt. Aber wirklich tief betroffen hat sie mich nicht.
Genauso wenig übrigens wie der Großteil von The Walking Dead. Telltales Adventure fußt zwar schon eher in der Realität, es thematisiert den Untergang unserer Zivilisation und wie Menschen damit klarkommen. Ein spannendes Gedankenexperiment, aber auch keine Frage, die ich jemals für mich selbst beantworten muss.
Im echten Leben muss ich niemals entscheiden, wer von Zombies gefressen wird und wer nicht. Die unrealistische Kulisse schwächt die Gefühlswirkung ab. Obwohl The Walking Dead einige enorm emotionale Höhepunkte inszeniert, steht so doch immer eine halbwegs sichere gläserne Wand zwischen mir und dem Geschehen.
Life is Strange schafft es in seinen besten Momenten, diese gläserne Wand zu zerschmettern. Und hat mich damit ehrlich erschüttert.
Der Autor
Maurice Weber ist ein gefühlskaltes Monster, das (fast) völlig teilnahmslos über Leben und Tod in Rollenspielen und Adventures entscheidet. Von Life is Strange hatte er sich nicht mehr als ein entspanntes, putziges Episoden-Adventure für zwischendurch erwartet. Umso überraschter war er, als ihm die Geschichte so gekonnt unter die Haut ging.
Spiele, die das Leben schreibt
Wie hat Life of Strange das geschafft? Auf denkbar einfachste Weise: Es konfrontiert mich mit Situationen, die ich vielleicht noch nie selbst erlebt habe, aber doch erleben könnte. Mit Schicksalsschlägen und Entscheidungen aus dem echten Leben. Okay, ich spiele eine zeitreisende Teenagerin - aber die größte Stärke von Life is Strange ist eben, wie wenig das eigentlich ausmacht. Ich kann fast jederzeit ein paar Minuten zurückspulen, Dialogantworten zurücknehmen und neue ausprobieren.
Gerade das zwingt das Spiel aber dazu, mich vor Entscheidungen zu stellen, bei denen ich nicht sofort erkennen kann, was »richtig« oder »falsch« ist - oder bei denen solche simplen Kategorien gleich komplett versagen. Und auch wenn ich alle möglichen Entscheidungen durchspiele, muss ich doch eine wählen, mit der ich langfristig leben will.
Kein dritter Weg: Report zu unbequemen Entscheidungen in Spielen
Am besten lässt sich darüber am konkreten Beispiel reden. Wer Life is Strange noch spielen möchte, sollte die folgenden Spoiler-Absätze überspringen.
Warnung: der folgende Absatz enthält Spoiler
Die neue Episode »Dark Room« beginnt eigentlich auch mit einer dieser völlig abgefahrenen Spielesituationen: Mit Max' Zeitreisekräften bin ich Jahre zurückgegangen, um den Vater ihrer besten Freundin Chloe vor dem Tod zu retten. Zurück in der Gegenwart stelle ich entsetzt fest, dass ich damit nur ein Unglück gegen ein anderes getauscht habe. Mit dem Auto, das Chloes Vater ihr zum Geburtstag schenkte, geriet sie in einen Unfall und sitzt seitdem vom Hals abwärts gelähmt im Rollstuhl.
Das Spiel nimmt sich Zeit, mir Chloes neue Situation näherzubringen. Wie sie wieder einen Vater und eine liebende Familie hat. Aber auch, wie diese Familie mit Millionenschulden für Chloes Behandlung kämpft und ihre Gesundheit sich trotzdem nur immer weiter verschlechtert. Max schwört, für ihre Freundin da zu sein und die beiden verbringen einen Abend mit Filmen und Fotos von früher. Am nächsten Morgen hat Chloe einen Entschluss gefasst: Dies soll ihre letzte Erinnerung sein, sie möchte sterben. Und weil sie das nicht alleine kann, soll Max ihr die tödliche Dosis verabreichen. Also ich.
Es war nicht das erste Mal, dass ich baff vor dem Bildschirm hockte und mich einfach nur fragte: »Was mach ich da jetzt?« Wie schwierig die Entscheidung fällt, zeigt allein schon die Statistik am Ende der Episode, die Spieler sind fast genau in zwei Hälften gespalten. Life is Strange stellt mir Fragen, auf die es keine leichten Antworten gibt, die ich aber auch nicht einfach als Spiel oder Fantasy-Gedankenexperiment abtun kann. Kein Baumgeist, keine Hexen, keine Zombies.
Sondern Fragen, mit denen echte Menschen zu kämpfen haben, und mit denen sich die Gesellschaft und der Gesetzgeber auseinandersetzen müssen: Sterbehilfe, Selbstmord, Mobbing und Vergewaltigung. Themen, mit denen jeder von uns vielleicht eines Tages persönlich konfrontiert werden könnte.
Das verleiht auch meiner Spielentscheidung ein ganz anderes Gewicht, trifft mich persönlicher, zwingt mich zum tieferen Nachdenken. Und zeigt die einzigartige Macht des Mediums Spiel: Mich aktiv in den Schuhen eines anderen gehen zu lassen. Nicht nur durch fremde Welten, sondern auch durch bekannte, aber aus einer fremden Perspektive. Klar, auch Life is Strange ist insgesamt kein realistisches Spiel, und seine Teenie-Charaktere klingen nicht unbedingt wie direkt aus dem Leben gegriffen. Aber es stößt mich in Lebenssituationen, denen ich noch nie zuvor in einem Spiel gegenüberstand. Und wirft damit letztlich vor allem eine Frage auf: Wieso machen das nicht noch mehr Spiele?
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