Hauptrollen in Videospielen haben sich in den letzten 10 Jahren sehr deutlich gewandelt. Besonders weibliche Heldinnen sind endlich präsent vertreten und männliche Protagonisten werden auch im AAA-Bereich mit einer größeren emotionalen Bandbreite gezeigt.
Von Red Dead Redemption 2, über The Witcher 3, bis hin zu Death Stranding, finden Spieler*innen eine tiefere Verbindung zu ihren männlichen Avataren als in früheren Spielen der selben Entwicklerstudios. Zentral sind dabei die ruhigen Momente und das Gewährenlassen von Emotionen, nachdem diesen Männern das nächste traumatische Ereignis ereilt. Wenn nicht immer, dann doch öfter und mit mehr Mut für diese Stimmungen als wir es vorher gewohnt waren.
Doch warum ist es nicht selbstverständlich, mehr als nur Variationen eines bestimmten Bildes an Männlichkeit zu sehen? Eines, das keine Schwäche zeigt, unliebsame Emotionen abschottet und auf das man sich immer verlassen kann? Kein Zufall, dass dies auch die gesellschaftlichen Erwartungen an Jungs und vor allem Männer im echten Leben sind. Dieses Ideal tatsächlich erfüllen zu können ist ein wichtiger Teil der Machtfantasie, die AAA-Blockbuster bedienen wollen.
Videospiele sind etwas für andere
Betrachtet man die Historie von Videospielen, wirkt dieses Festklammern an männlichen Stereotypen bizarr. Schon 8-Bit-Konsolen und -Computer standen den Geschlechtsidentitäten ihrer Spieler*innen durchwegs neutral gegenüber, dennoch existierte zu ihrer Hochzeit bereits der Ruf sie seien "Jungs-Spielzeug".
Zufall ist das nicht, wie eine detaillierte Reportage des amerikanischen Magazins Polygon aufzeigt. Frühe große Publisher wie Atari und Activision entschieden sich für die klassische Marketingstrategie, ihr Produkt nicht an alle zu vermarkten, sondern auf eine bestimmte – jedoch möglichst große – Gruppe abzuzielen. In diesem Fall Jungs und Männer, obwohl Frauen bis dahin unabdingbar für frühe Computer- und Spieleentwicklung waren.
Lena Maximilian Siess
@GescheitGespiel
Lena sucht ständig nach gesunden Männlichkeitsbildern in Spielen, haut dennoch trotzdem gerne mit Geralt Monsterviechern aufs Maul. Auf ihrem YouTube Kanal untersucht sie Titel wie Gothic, Mass Effect oder Fallout: New Vegas auf ihre menschlichen Aspekte. Und auf Twitter gibt es manchmal Witze. Manchmal.
Stereotyp Mann: Dementsprechend wurden hauptsächlich Spiele entwickelt und mit einer großen Marketingkampagne versehen, die stereotypisch männliche Elemente widerspiegelten. Kann man darin Gegner eliminieren, oder sich irgendwie im Wettkampf messen? Am besten auch noch die hilflose Prinzessin retten? Super!
Die primären Gameplay-Loops dieser Spiele bestimmen natürlich stark die Geschichte des Spiels. Oder zumindest die Heldenfigur, dessen Rolle der*die Spieler*in übernehmen soll. Folglich wurden es dann auch fast immer Männer.
Der Wendepunkt der Gender-Ungleichheit
Bis in die frühen 2010er Jahre wurde der Druck auf die "Boys-Club" Kultur in Gamingkreisen immer höher und Kritik an sexistischen Mustern in den Spielen selbst erreichte die breite Masse.
Dazu gehörte die in 2012 auf Kickstarter erfolgreich finanzierte Videoreihe "Tropes vs. Women in Videogames", der feministischen Kritikerin Anita Sarkeesian. Aufgrund des Crowdfundings wurde sie zusammen mit anderen Frauen in der Videospielindustrie das Ziel einer bis dahin noch nicht gesehenen Belästigungskampagne (bekannt als GamerGate).
Rückblickend waren die Kritikpunkte in ihrer Videoreihe in vielerlei Hinsicht eine grundlegende Anwendung feministischer Kunsttheorie auf prominente Beispiele der Spielegeschichte. Dass sie trotzdem zu einer derartig giftigen Reaktion geführt hat, rüttelte viele in der Industrie wach. Sarkeesian wurde von vielen Entwicklerstudios ernst genommen, teils als Beraterin eingeladen. Allgemein ist seitdem eine deutliche Verschiebung weiblicher Repräsentation in allen Spielen, inklusive AAA-Titeln, zu sehen.
Weibliche Action-Heldinnen: Sei es Aloy in Horizon Zero Dawn, Jesse Faden in Control, Selene Vassos in Returnal, oder Chloe und Nadine in Uncharted: The Lost Legacy. Moderne Spieler*innen sind es inzwischen gewohnt große Actionspiele mit Frauen wie diesen zu bestreiten. Die Held*innen eliminieren ihre Gegner*innen genauso effektiv und stilvoll wie ihre männlichen Kollegen. Da Frauen einen gleichwertigen Zugang zu diesen Machtfantasien haben sollen, ist das ein großer Erfolg und eine bedeutsame Errungenschaft.
Eine schöne Entwicklung, auch wenn sich die Action-Rolle selbst nur durch Wechseln des Geschlechts der Protagonist*innen dabei wenig verändert hat.
Viel Mehr als nur Tötungsmaschinen
Wie Anfangs angesprochen, befinden sich diese Rollen auch schon im Wandel. Einerseits mit weiblichen Protagonistinnen, wie Ellie und Abby in The Last of Us Part 2, die durch Actionsequenzen und darüber hinaus die tiefschwarzen Seiten ihrer Persönlichkeit ausspielen. Zu dem Punkt, an dem sie die destruktiven Gewaltspiralen nachbilden, die wir sonst männlichen Figuren vorbehalten sehen.
Über diesen Aspekt von The Last of Us 2 könnt ihr in einer separaten Kolumne mehr erfahren:
Dennoch, intime und menschliche Momente bekommen sie genauso, was sie facettenreicher zeichnet und in den dramatischen Szenen erdet. Auch wenn die im Vergleich zum Vorgänger andere Richtung der Geschichte einige Spieler*innen störte, tat das dem immensen Erfolg des Titels keinen Abbruch.
Männer werden vielschichtiger: Andererseits können wir solche Vertiefungen ebenso bei männlichen Helden sehen. Alle Teile der The Witcher-Trilogie nehmen sich einiges an Zeit um Monsterjäger Geralt von Riva abseits von lebensgefährlichen Situation oder als Außenseiter zu zeigen. Wir begleiten ihn bei Saufgelagen mit Freund*innen, spielen in Theaterstücken mit und werden eine beachtliche Zeit lang von seinen Partnerinnen begleitet.
Das emotionskalte Image bröckelt während der Zeit mit ihm immer mehr und wir lernen wie Geralt seine Empathie hinter Zynismus versteckt. Dass der Eindruck eines gefühllosen Killers eine Maske ist, die vor der harten Welt schützt, die ihm (und den nicht-menschlichen Rassen) seine Rechte abspricht. Einiges liegt auch in der Hand der Spieler*innen, so nimmt Geralt bei einem Problem oder Auftrag den längeren Weg, der dafür das wenigste Leid anrichten soll, wenn wir uns dafür entscheiden.
Diese Bandbreite seiner Darstellung, eine Erweiterung der typischen Maskulinität die Action-Protagonisten sonst verkörpern, verhelfen Geralt zum Status als einer der beliebtesten Videospiele-Helden aller Zeiten.
Ein Blick nach Japan: Für Beispiele von stark definierten Hauptcharakteren, dessen Männlichkeit auch mehr von den Idealen unserer Gesellschaft abweicht, muss man jedoch über den AAA-Tellerrand hinaus und beispielsweise nach Japan sehen. Die Yakuza-Reihe erkundet die emotionalen Beziehungen zwischen Männern und kritisiert destruktives Verhalten. Francis York Morgan aus Deadly Premonition mag deutlich an Agent Dale Cooper der TV-Serie Twin Peaks angelehnt sein, übernimmt aber auch dessen einfühlsame Persönlichkeit. Und der namensgebende Phoenix Wright kommt sogar gänzlich ohne Kampfmechaniken aus.
Disco Elysium dreht alles auf den Kopf
Das Spiel, das seinen männlichen Protagonisten am breitesten zeichnet, wird vermutlich das 2019 erschienene "Detektiv-RPG" Disco Elysium sein. Untypisch für diese Art Spiel können wir unser Geschlecht nicht zu Beginn auswählen, sondern spielen immer die selbe Figur: Einen heruntergekommenen, drogenabhängigen Polizeidetektiv am Abgrund und mit Amnesie. Ob wir seinen Drogenkonsum weiterführen oder abbrechen, ihm helfen seine alte Identität wieder zu erlangen oder eine neue konstruieren, als autoritären Cop oder einfühlsamen Waschlappen spielen, ist dabei gänzlich uns überlassen.
Der Hype und die Lorbeeren, die dem Spiel zugesprochen werden, lassen sich großteils auf diese Freiheiten zurückführen. So ist es durchaus möglich den Detektiv als emotional fragiles Wrack zu spielen, das sich im Verlauf der Ermittlung aber stabilisiert. Sei es wegen der ernsten Faktenlage des Falls, die wir mit der Zeit aufdecken, oder um die Leute um ihn herum nicht zu enttäuschen, ist dabei unserer Fantasie überlassen. Aber es ist überhaupt eine Option. Genau wie anfangs alle Probleme der Figur zu verstecken und sie im Laufe des Spiels zu verschlimmern und heraussprudeln zu lassen. Ein Fest für Rollenspiel-Fans.
Gefühle offen zulassen: Die Bereitschaft der Entwickler*innen, den Detektiv dermaßen oft erbärmlich und hilflos, aber auch verletzlich und offen aussehen zu lassen, sollten Spieler*innen sich dazu entscheiden, ist im RPG Genre einzigartig. Gleiches gilt für die anderen Aspekte seiner Persönlichkeit, die das Spiel formbar gestaltet, darunter die politische Ausrichtung oder wie fantasievoll er die Welt sieht.
Und wieder ist es die Bandbreite, die das Spiel einem hier für mögliche Spielsituationen mit dem Hauptcharakter anbietet, was ihn und damit das Spiel zu einem neuen Goldstandard für Rollenspiele hebt.
Das Leben muss kein Kampf sein
Disco Elysium musste neue Methoden finden, um Rollenspieler*innen zu begeistern, denn ihm fehlen formelle Kampfmechaniken komplett. Das mag seinem Status als Indie-Titel geschuldet sein, aber die sehr breite Darstellung des Detektivs, die auch deutlich von der sonst in RPG-Held*innen üblichen Kämpfernatur abweichen kann, widerspricht der Idee regelmäßig in Kampfsituationen zu geraten.
Hätten sich Spiele in den 80ern schon nicht derart auf Mechaniken festgesetzt, die aggressives und risikohaftes Handeln belohnen, wäre ein RPG wie Disco Elysium wahrscheinlich nicht erst 2019 erschienen.
Spaß auch ohne Kampf: Der Fokus auf das Bekämpfen von Gegner*innen, oder gar ein Kampf um das eigene Überleben, ist eine motivierende und bewährte Grundlage für viele großartige Titel. In der Zukunft werden wir aber mehr Entwicklerstudios und Spiele sehen, die sich auch mit höheren Budgets über dieses Format hinaus trauen. Ein größeres Rollenspiel mit Disco Elysium als Vorbild oder Spiele die sich an der pazifistischen Ader von Undertale orientieren, sind vorstellbar. Hier werden sich die meisten Held*innen finden, unabhängig von Geschlecht, die nahbar sind und mit denen sich mehr Menschen identifizieren können.
Actionreich darf es trotzdem sein: Einfach spaßige Machtfantasien oder überzeichnete Welten, in denen Personen ihrer ganz eigenen Logik folgen, wie z.B. in der Devil May Cry-Reihe, wird es natürlich immer geben. Ihre Existenz schließt andere Arten von Geschichten nicht aus.
Videospiele brauchen mehr Held*innen, die uns zeigen, wie wir diese oft verwirrende Welt navigieren können, ohne uns und andere dabei kaputt zu machen. Kritik an "toxischer Maskulinität" wird langsam bekannter, was jedoch wirklich nötig ist, sind Beispiele von Held*innen, die positive Maskulinität verkörpern. Einer der Schlüssel dazu ist, die ungesunden gesellschaftlichen Erwartungen, die wir uns gegenseitig auflegen, zu hinterfragen.
Gute Beispiele sind dafür noch selten, nicht nur im Videospielbereich. Der Trend zu mehr scheint jedoch unaufhaltsam.
Dieser Artikel ist Teil unserer Held*innen-Themenwoche, die noch bis zum 13. August 2021 läuft und euch täglich spannende neue Artikel rund um das Thema Videospiel-Charaktere präsentiert. Alle bislang erschienenen Artikel findet ihr hier in unserer Übersicht.