Die Mystic Knights waren die Serienheld*innen meiner Kindheit: Vier Ritterinnen und Ritter, die in der Fantasywelt von Tir Na Nog gegen einen bösen Feldherrn und seine Schergen antreten. Power Rangers für Mittelalterfans, inszeniert mit wenig Budget, ausgestrahlt im Nachmittagsprogramm von Super RTL. Große Twists, überraschende Tode oder moralische Zwickmühlen gab es hier keine, die Welt war in gut und böse eingeteilt: Die Guten beschützen ihre Freunde und sind füreinander da, die Bösen tragen Rüstungen mit fiesen Stacheln und schreien viel herum. Klarer geht es nicht.
Die Held*innen meiner Lieblingsspiele dieser Zeit hatten viel mit den Mystic Knights gemein: Kirby, der Prinz aus Prince of Persia, Guybrush Threepwood und der Doom Slayer waren immer "die Guten", die gegen "die Bösen" bestehen mussten. Klassische Heldengeschichten inklusive selbstloser Opfer, hoffnungsvoller Gesten und dem unerschütterlichen Glauben an ein Happy End.
Heute wirken diese Geschichten der Mystic Knights, aber auch die eines Kirby und Guybrush geradezu kitschig: Sie sind vorhersehbar, überraschen nicht, provozieren niemanden. Irgendwie altmodisch. Die Geschichten, die wir uns heute erzählen, funktionieren meist anders: Sie siedeln im moralischen Graubereich, machen es uns schwerer, "gut" von "böse" zu unterscheiden. Fans von dramatischen Twists und Gegner des Happy Ends klatschen darüber begeistert in die Hände - aber was den Geschichten dieser Antiheld*innen allerdings fehlt: der Optimismus, dass alles wieder gut wird. Und: Die mächtige Wirkkraft des kompromisslosen Gut-Seins.
Alles ist erlaubt, nichts ist richtig
Die erste Berührung mit der Grauzone: Der Trend zum Antihelden oder zur Antiheldin, der nur seinem nach eigenen Kodex, auch mal rücksichtslos agiert und doch irgendwie nur das Beste für alle will, begann vor langer Zeit. Mit Papers, Please aber erreichte er auch schließlich Anfang der 2010-er Jahre meine heile Welt.
Als Grenzkontrolleur musste ich hier die Papiere von Einwandernden kontrollieren: Wer alles beisammen hat, darf durch, wer Dokumente fälscht, wird abgeschoben. Da hilft auch kein Flehen und Wehklagen, weder meins noch das der Menschen an meinem Schalter. Und daheim wartet die hungrige Familie auf mein Gehalt, das höher ausfällt, je mehr Menschen ich am Schalter durchlasse. Die perfekte Rezeptur für eine erdrückende Zwickmühle: Helfe ich vielen Menschen, riskiere ich meinen Job und mein Leben, mache ich meine Arbeit vorschriftsmäßig, hungert meine Familie.
Diese Geschichte kennt keine Helden und zwingt mich als Spieler, der eigentlich das Richtige tun will, zum ständigen Abwägen, hinterfragen, Kompromisse eingehen.
Aktuelle Grauzonen: Auch die Spielwelt der Gegenwart ist voll von diesen Geschichten, die "Gut" und "Böse" zu einer grauen Masse vermischen: Wochen nach dem Abspann von The Last Of Us frage ich mich immer noch, ob Joel nun eigentlich ein cooler Typ oder verabscheuungswürdig ist, in Ghost of Tsushima begleitete ich den orientierungslosen Protagonisten Jin Sakai bei seinem dramatischen Drahtseilakt zwischen bedingungsloser Nächstenliebe und kaltem Opportunismus.
In God of War stützte ich Kratos in seinem verzweifelten Kampf gegen seine Taten der Vergangenheit und sein eigenes Temperament, während in der Postapokalypse von Wasteland 3 einige der schlimmsten Verbrecher überzeugt davon sind, "gut" zu sein.
All diese Welten und ihre Geschichten gingen mir ans Herz, beschäftigten mich auch noch lange Zeit nach dem Abspann. Sie sind spannend und reißen mit, weil bis zuletzt nicht klar ist, ob unser Held nun triumphieren oder irgendwo auf dem Weg durch die moralische Grauzone liegenbleiben wird. Aber ihnen fehlt eine große Qualität, die mir die Spieleheld*innen meiner Kindheit und zuletzt erst wieder Aloy aus Horizon Zero Dawn vor Augen führte.
Wenn Heldinnen zum Vorbild werden
Die Welt von Horizon Zero Dawn platzt wie jede postapokalyptische Welt vor Konflikten, Problemen und Bedrohungen. Riesige Roboterdinos streifen durch das Land und attackieren die Menschen, die sich nach einer mysteriösen Katastrophe in den Ruinen der Alten Welt zu neuen, rivalisierenden Nationen zusammengefunden haben. Eine Welt, die trotz ihres abgehobenen Schauplatzes "echt" wirken will, deswegen bis zuletzt nicht verrät, wer wirklich "gut" und "böse" ist - aber eben doch Platz für eine echte Heldin lässt.
Aloy ist eine Figur, wie es sie heute nur noch selten gibt: Durch und durch gutherzig, von einer fast kindlichen Neugier beseelt, zwar auch getrieben von inneren Konflikten, aber niemals im Zweifel darüber, was das Richtige ist. Sie zu spielen macht für mich Horizon Zero Dawn wirklich zu einer besonderen Erfahrung. Vor dem Hintergrund jahrelang durchwateter moralischer Grauzonen erschien sie mir umso faszinierender.
Aloy lebt in einer Welt voller Regeln: Ihre Dorfgemeinschaft hält sich streng an alte Traditionen, die Anführerinnen strahlen Autorität aus und verlangen Gehorsam. Unsere Heldin wächst als Verstoßene am Rande dieser Gesellschaft auf, sie muss sich ihren Platz und Anerkennung erkämpfen. Gleichzeitig fühlt sie sich fremd in dieser neuen Welt und drängt darauf, mehr über die Vergangenheit ihrer Kultur und ihrer Heimat zu erfahren.
Aloy ist neugierig und wissbegierig, sie stellt Regeln und Traditionen in Frage, die ihr engstirnig entscheiden und verfolgt eisern ihre Ziele. Sie ist nie um einen augenzwinkernd-bissigen Kommentar verlegen, geht gleichzeitig aber auch offen auf Menschen zu. Mit anderen Worten: Aloy ist freundlich, empathisch, tritt für sich selbst und andere ein. Sie hat einen stark ausgeprägten inneren Kompass, der klar in Richtung "gut" zeigt.
Nach den vielen, vielen Antihelden der letzten Jahre genoss ich es, endlich wieder uneingeschränkt auf der "richtigen Seite" zu stehen, ohne mir ständig Gedanken um die Motive meiner Heldin machen oder bangen zu müssen, ob sie auf dem Weg zum Abspann nicht doch genau eben jenen moralischen Kompass verliert. Und diesen Spaß mit klaren Rollen, Gut gegen Böse, wünsche ich mir deswegen von den Spielen der Zukunft wieder viel häufiger.
Mehr Mut zum Gut-sein!
Der Blick auf kommende AAA-Spiele, die ihre Geschichte in den Vordergrund stellen, gibt mir allerdings nur wenig Hoffnung, dass dieser Wunsch erfüllt wird: In der Zombie-Apokalypse von Dying Light 2: Stay Human buhlen gleich mehrere Gruppen Überlebender um meine Loyalität, einigen werde ich helfen können, anderen nicht.
Ein "Gut" oder "Schlecht" spielt in dieser Welt, in der alle Täter und Opfer gleichermaßen sind, keine Rolle. Und God of War 2: Ragnarok? Hier wird der Vater-Sohn-Konflikt zwischen Kratos und Atreus fortgesetzt werden, der wohl ebenfalls keinen Platz für meinen Wunschhelden lässt.
Meine einzige Hoffnung: Die Rollenspiele müssen es wieder einmal richten, entweder Baldur's Gate 3 oder auch der Indie-Geheimtipp Death Trash, die mir beide viel Entscheidungsfreiheit versprechen – und demzufolge auch Platz für den durch und durch guten Helden haben sollten. Aber ein Rollenspiel aus der Vogelperspektive spielt für mich persönlich dramaturgisch dann eben doch in einer anderen Liga als ein durchchoreographiertes Story-Spiel mit inszenierten Kamerafahrten und filmreifen Zwischensequenzen –und hier sieht es heldentechnisch nach wie vor erstmal mau aus.
Ich verstehe das ja: Antihelden und Antiheldinnen, die noch ihren eigenen moralischen Kompass finden müssen, strahlen durch ihre Komplexität eine gewisse Faszination aus.
Und doch wird dabei der Wert der klassischen Heldenfigur in meinen Augen viel zu häufig übersehen: Klassische Helden und Heldinnen können gerade durch ihre Unbeirrbarkeit wundervolle Vorbilder und eine Konstante sein, die ich mir in einer Welt, die immer bedrohlicher und unübersichtlicher wirkt, sehnlichst wieder herbeiwünsche.
Passend dazu die Gegenmeinung - Kollege Max meint: Ich will wieder mehr Arschlöcher wie Abby spielen!
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