Anthem ist im Herzen eine Koop-Erfahrung. Eigentlich. Das heißt aber nicht, dass es zwangsläufig auch zusammen gespielt werden muss. Das zumindest betonte BioWare in der Vergangenheit immer wieder, wenn das vor allem für seine Singleplayer-RPGs bekannte Studio versuchte, besorgte Fans zu beruhigen.
Ein bisschen erinnert das auf Anhieb an Bethesda, die für ihre Singleplayer-Rollenspiele bekannt sind, mit Fallout 76 dann aber einen Abstecher in die Multiplayer-Welt gemacht haben. Zwar wurde beteuert, dass wir auch allein in Appalachia Spaß haben könnten, die Realität sah dann aber ganz anders aus.
Wie das in Anthem aussieht, habe ich versucht bei einem Studiobesuch bei BioWare Austin herauszufinden. Nachdem ich zuerst mit drei anderen den Koop-Aspekt genauer unter die Lupe genommen habe, habe ich meine Mitspieler abgeschüttelt und einen Soloflug unternommen.
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Am Anfang ist jeder allein
Als ich meine ersten Geh- und Flugversuche in Anthem wage, bin ich allein. Oder zumindest fast. Denn anstatt menschlicher Begleiter sind zu Beginn ausschließlich NPCs an meiner Seite. Sie führen durch die actionreiche Tutorial-Mission, in der ich lerne, wie ich mich in meinem Javelin bewege. Gleichzeitig verschaffe ich mir einen Eindruck von den Gefahren, die in der Welt von Anthem lauern.
In diesen ersten Momenten ist es leicht zu vergessen, dass auch Bungies Destiny-Spiele mit einem einsamen Start beginnen, bevor sie ihre Shared World öffnen. Stattdessen erinnert es an klassische BioWare-Singleplayer-Titel wie Dragon Age: Inquisition. Ich werde sofort ins Geschehen und tief in die Lore ihres neuen Universums gezogen.
Dass demnächst weitere Spieler an meiner Seite sein werden - oder zumindest sein könnten - gerät schnell in Vergessenheit, als mehrere gigantische Titanen vor mir auftauchen und ich mit der ersten verheerenden Katastrophe meines Freelancer-Daseins konfrontiert werde: Ein instabiles Relikt der verschwundenen, gottgleichen Shaper sorgt für ein Ungleichgewicht in der Anthem of Creation und somit für jede Menge Zerstörung sowie dem Tod einiger KI-Kollegen. Das Ganze spielt sich zwar hauptsächlich in Cutscenes ab, verliert deshalb aber keinesfalls seine Wirkung.
Weder Story noch Gameplay lassen mich während des Anfangs Mitspieler vermissen oder erinnern mich durch fehlende Tiefe oder Spannung daran, dass ich zwingend Koop-Partner brauche, um Spaß zu haben.
Stattdessen habe ich NPCs an meiner Seite, die reale Begleiter nicht nur würdig vertreten, sondern auch dafür sorgen, dass ich mich nicht alleine fühle.
Wenn aus allein einsam wird
Sowohl in Destiny als auch in Fallout 76 drängte sich mir recht schnell die Einsamkeit - und somit auch die Langeweile - auf, wenn ich keine Mitspieler hatte.
In Bethesdas RPG lag es vor allem daran, dass die Welt frei von NPCs war, mit denen ich hätte interagieren können. In Destiny gab es die zwar, allerdings beschränkten sich Figuren entweder auf ihre Rolle als Questgeber oder auf Monologe in Cutscenes.
Beide Spiele machten es schnell deutlich, dass Interaktionen mit potenziellen Mitspielern im Fokus stehen sollten, nicht hingegen die mit der Welt und ihren (nicht vorhandenen) Bewohnern. Das zeigte sich auch darin, dass mein dass mein Player Character in keinem der beiden Spiele eine Stimme hatte oder die Option, auf Gesagtes zu reagieren. Sprache war ein "Feature", das Koop-Partnern vorbehalten war. Wenn man gerade niemanden hat, mit dem man spielen oder sprechen kann, gibt es nichts, dass die Stille oder die Welt mit Leben füllte.
Anthem hingegen spendiert der eigenen Figur eine (je nach Wunsch männliche oder weibliche) Stimme, die nicht nur in Cutscenes zu hören ist. Auch während ich durch die Welt fliege, plänkelt mein Freelancer mit ihrem Cypher Owen und unterhält sich über die Mission oder das Leben in Fort Tarsis.
Das ist eine willkommene Abwechslung zu meinen letzten Shared World-Erfahrungen. Nicht nur, dass mein Freelancer so zum Leben erwacht, auch die Möglichkeit, mit der Welt zu interagieren und zu kommunizieren, lässt sie gleich lebendiger wirken.
Stimme im Ohr
Die Funktion von Owen ist ähnlich wie die des Ghosts in Destiny, durch den wir mehr über Welt, Lore, aktuelle Mission, … erfahren. Anstatt eines Monologs entfaltet sich hier aber ein Dialog, sowohl abseits der Mauern von Fort Tarsis als auch innerhalb unseres Hubs, in dem Owen auf uns wartet.
Egal, ob wir alleine spielen oder zusammen mit anderen, Owen ist immer bei uns und kommentiert unser Treiben, macht Witze und teilt seine Sorgen. Bereits bevor ich ihn das erste Mal in Fort Tarsis treffe, besitzt er jene Tiefe, die ich von einem Nebencharakter in einem BioWare-Spiel erwarte.
Störend ist der Cypher im Multiplayer übrigens nicht. Stattdessen sorgt er dafür, dass ich mich auch im Squad mit bis zu drei anderen Spielern wie der Hauptcharakter meines eigenen Spiels fühle. Schließlich spricht Owen mit mir, denn er ist mein Cypher.
Dialog statt Monolog
Die Möglichkeit, im Hub auszuwählen, was ich zu Charakteren sage, verstärkt sowohl die Bindung zum eigenen Freelancer als auch zu anderen Figuren.
Anders als in Mass Effect und Dragon Age habe ich allerdings nicht die Möglichkeit, zwischen einer Vielzahl aus Antwortmöglichkeiten zu wählen, die Dialogoptionen sind auf zwei Möglichkeiten beschränkt. Zumindest in der kurzen Zeit, die ich in Fort Tarsis verbracht habe, hat das allerdings nicht gestört.
Sicher, es erinnert daran, dass Anthem kein klassisches BioWare-RPG ist. Allerdings bietet das Feature dennoch eine Möglichkeit der sozialen Interaktion, die nicht an reale Mitspieler gebunden ist, was vor allem für Solo-Spieler ein Bonus ist.
Wer Anthem also alleine spielen will, muss keine Angst haben, sich dabei einsam zu fühlen.
K(l)eine Gameplay-Einschränkungen
Einschränkungen im Gameplay soll es für Singleplayer-Freelancer laut der BioWare-Entwickler, mit denen ich sprechen konnte, sogut wie keine. Wer alleine auf Titan-Jagd gehen will, kann das durchaus tun. Lediglich die Strongholds bilden hier die Ausnahme. Die Endgame-Inhalte sind für vier Spieler vorgesehen. Wer keine Mitspieler hat, kann aber auf Matchmaking zurückgreifen. Auch wenn das natürlich den Traum vom Solo-Spiel zerstört.
Ist man gerade in keinem Squad unterwegs, dann reagiert die Welt entsprechend darauf. Das zeigt sich in der Schwierigkeit des Gameplays, die entsprechend skaliert. Da taktisches Teamplay in Soloausflügen logischerweise keine Rolle spielen kann, ist Anthem allein etwas einfacher - zumindest in Hinblick darauf, dass einen als Gruppe in Missionen mehr Gegner und schwierigerer Kampf erwarten.
Das heißt aber nicht, dass es alleine zu simpel sein muss. Wie groß die Herausforderung ist, kann jeder selbst entscheiden. Anthem bietet sechs verschiedene Schwierigkeitsgrade. Einfach, Normal und Schwer stehen von Anfang an zur Verfügung, drei weitere werden mit höheren Leveln freigeschaltet.
Allein ist nicht ganz allein
Eine Einschränkung für die vielleicht gewünschte Einsamkeit gibt es laut Anthem-Producer Thomas Singleton allerdings: Freeplay.
Hier entfällt die Option, die Spielsession auf privat zu schalten. Sobald man ohne festes Ziel in die Welt von Anthem startet, wird das Action-RPG zur Sandbox, in der auch andere Freelancer umherfliegen. Bis zu drei Spielern tummeln sich dann gleichzeitig auf dem dedizierten Server, da es allerdings kein PvP gibt und die Open World groß ausfällt, gibt es keinerlei Interaktionszwang.
Einander zu ignorieren ist relativ einfach, wie ich während meiner Zeit im Freeplay festgestellt habe. Unter anderem, weil es durch das vertikale Gameplay und den Höhenrausch des Javelin-Gameplays sehr leicht ist, andere zu verlieren - selbst das eigene Team.
Nicht, dass ich da aus Erfahrung sprechen würde ...
Anthem ist (hoffentlich) nicht Fallout 76
Sicherlich, in der Theorie ist es fast immer möglich, ein auf Multiplayer ausgelegtes Spiel alleine zu spielen. Ob es solo aber auch Spaß macht, steht auf einem ganz anderen Blatt geschrieben.
In der Theoriewollte es uns Bethesdas Online-RPG ebenfalls ermöglichen, Appalachia im Alleingang zu genießen. Das Problem war allerdings, wie Linda kurz nach Release ausführlich beschrieb, dass Fallout 76 uns das nicht leicht gemacht hat.
Das Fehlen von (menschlichen) NPCs sorgte für eine leere Welt und eine schwache, uninteressante Story, die keine Motivation bot, ohne Freunde ins Abenteuer zu ziehen. Das Solo-Spiel ist etwas, das Fallout 76 zwar bietet - dass Bethesda allerdings will, dass wir mit anderen spielen, lässt sich in jedem Winkel des Spieldesigns deutlich spüren.
Im Kontrast dazu stellte BioWare mit der Entwicklung des persönlichen Hubs Fort Tarsis von Anfang an sicher, dass es einen dedizierten Singleplayer-Aspekt gibt. Egal, ob jemand komplett alleine oder mit Freunden spielen will, Fort Tarsis bleibt immer eine Solo-Erfahrung, die ein bisschen an Basen wie die Normandy oder die Tempest in Mass Effect oder Skyhold in Dragon Age: Inquisition erinnert.
Anthem gibt einem so von Anfang an das Gefühl, dass Singleplayer-Spieler mitgedacht wurden, selbst wenn BioWare selbst immer wieder betont, dass der Fokus auf Koop liegt. Zumindest fühlt sich aber die Wahl wie eine tatsächliche Entscheidung an, die ich für mich selbst treffen kann anstatt wie eine vorgegaukelte Möglichkeit, bei der nur eine Option mir tatsächlich Spaß bringt.
Letztendlich kann ich vor der Veröffentlichung noch nicht definitiv sagen, wie gut Anthem als Solospiel funktioniert. Der Fokus meines Anspieltermins lag auf der Koop-Erfahrung. Auch wie gut die Story im Ganzen ist oder wie repetitiv Owens Kommentare mit der Zeit werden, lässt sich noch nicht abschätzen.
Mein erster Eindruck von Anthem als "Singleplayer" ist allerdings vorsichtig optimistisch, gerade im Vergleich zu alleinigen Streifzügen in anderen Shared World-Spielen. Ob es dabei bleibt, wird sich wohl ab dem 22. Februar herausstellen, wenn Anthem erscheint und wir erfahren, ob die Story genug Tiefe besitzt, um auch Singleplayer-Spieler glücklich zu machen oder nur die zweite Geige hinter dem (Koop-)Gameplay spielt.
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