Die Nachmittage nach der Schule sahen in meiner Kindheit wahrscheinlich genauso aus wie bei vielen von euch: Ich habe mich vor einen kleinen Röhrenfernseher gehockt und Ash dabei zugesehen, wie er sein Pikachu vor dem diebischen Team Rocket beschützte.
Wie die Digi-Ritter die Mächte der Freundschaft entflammten, Gregor mit dem Ball am Fuß über gefühlt den halben Erdball rannte und Ranma in seiner weiblichen Form vor der mörderischen Shampoo flüchtete.
Ein paar Stunden später ging es ins Abendprogramm und da wartete auch schon Son Goku mit den anderen Z-Kriegern. Der Grundstein für meine Anime-Leidenschaft wurde somit gelegt – dass ich dem Genre aber bis heute treu geblieben bin, habe ich vor allem zwei ganz anderen Sendern zu verdanken: VIVA und VOX.
Hellsing hat mir gezeigt, dass es auch Anime für 'Erwachsene' gibt
Anfang der 2000er Jahre hat der Musiksender VIVA – sowie dessen konzerneigener Konkurrent MTV, den ich aber nie empfangen habe – damit begonnen, Animes auszustrahlen. Und mich damit mitten in der Pubertät erwischt. Vor allem eine Serie sollte mich prägen wie keine Zweite: Hellsing.
Der düstere Vampir-Actioneer passte perfekt in eine Zeit, in der harter Nine Inch Nails-Metal durch mein Zimmer schallte, derbe Ego-Shooter wie Doom 3 sowie Unreal Tournament über meinen PC-Monitor flimmerten und wenig aufheiternde Filme wie Donnie Darko oder Requiem for a Dream der heilige Gral für mich waren.
Was soll ich sagen? Die Jugendkultur in meinen Teenager-Jahren war eben ziemlich edgy!
Und dann röhrte an einem Freitagabend um zehn Uhr abends auf einmal das punkige Intro von Hellsing durch meine Gehörgänge. Ein langhaariger Typ grinste in die Kamera – mit Knarren so groß wie Kanonen, John-Lennon-Gedächtnisbrille, Pentagrammen auf den weißen Handschuhen und einem riesigen Schlapphut.
ICH. WAR. HIN. UND. WEG.
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Das war auf einmal eine ganz andere Sorte von japanischem Zeichentrick, die ich zu dem Zeitpunkt noch gar nicht kannte. Dreckig, brutal und mal sowas von nicht kinderfreundlich. Ich war komplett sprachlos: “So kann Anime sein?” schoss es mir durch die Gedanken.
In der Serie ging es dann auch genauso zu, wie im Intro angedeutet. Die Mitglieder einer Spezialtruppe werden von Ghulen abgeschlachtet, als einzige Rettung eilt mit dem zuvor beschriebenen Alucard ein in Sachen Coolness unübertroffener Über-Vampir herbei.
Ja, nicht einmal Blade kommt da für mich ran – und den liebe ich auch abgöttisch!
Danach wechselt die Perspektive vorrangig zur jungen Soldatin Seras Victoria, die mir als Zuschauer mit ihrer unbedarften Art als idealer Ankerpunkt diente. Sie entdeckt die Welt der Vampire, liefert sich Auseinandersetzungen mit Monstern sowie fanatischen Kämpfern und versucht dabei, ihre moralische Unschuld zu bewahren.
Jeden Freitagabend habe ich dem Gespann zugeschaut, wie es seine Einsätze absolvierte, und mitgefiebert, wenn es mal brenzlig wurde. Jede Szene hatte auf einmal viel mehr Wucht, da der drohende Tod einer Hauptfigur tatsächlich zu einer dauerhaft schwelenden Gefahr wurde.
Auch das kannte ich vorher nicht.
Hellsing hat mich somit in einer ganz neuen Phase meines Lebens begleitet und gezeigt, dass auch Zeichentrick – beziehungsweise in dem Fall Anime – für Erwachsene gemacht sein kann. Und damit ein Tor für alles aufgestoßen, was noch folgen sollte.
So ging es nach Hellsing weiter
Wenig überraschend habe ich mich kurz nach dem Hellsing-Abschluss darüber informiert, ob es nicht noch weitere Animes gibt, die dem FSK 16-Schnetzler ähneln. VIVA war da auf Dauer leider nicht so ergiebig, denn außer einigen Schlüpfer-Animes sowie dem eher theatralischen 'X' war das Angebot dort ziemlich dürftig.
Dafür bin ich dann bei einigen Recherchen an einem Bibliotheks-PC mit viiiiiiiiieeeeeeeel zu langsamem Internet auf einen Anime-Film gestoßen, den ich zuvor nur von einem Musikvideo, das auf VIVA lief, (Sorry für den Ohrwurm!) kannte: Ghost in the Shell.
Der wurde dann auch zügig von meinem einige Jahre älteren Cousin auf VHS aus der Videothek ausgeliehen, da ich zu dem Zeitpunkt noch keine 18 war. Das habt ihr bestimmt genauso gemacht, gebt's zu!
Und auf einmal formten die mir bisher bekannten, von bassigem Techno unterlegten Schnippsel eine komplexe und extrem clevere Cyberpunk-Geschichte, über die ich bis heute grübele.
Kybernetik, virtuelles Leben, die Frage, wodurch die menschliche Existenz eigentlich definiert wird – auf einmal wurden in Animes auch noch philosophische Themen abgehandelt! Das Medium fächerte sich also immer breiter auf und führte mich dann auch noch zu vielen weiteren Serien und Filmen, die bis heute als Meilensteine gelten.
Dieser Artikel erscheint im Rahmen der Themenwoche "Retro-Anime", die vom 15. bis 21. Juli auf GamePro stattfindet. Mehr Artikel daraus findet ihr hier:
Erinnert ihr euch beispielsweise noch an die lange 'Best of Anime'-Nacht auf VOX?
Dort liefen vornehmlich an Jugendliche und Erwachsene gerichtete Anime-Serien und -Filme bis in die frühen Morgenstunden. Zum Beispiel die brillante Sci-Fi-Serie Cowboy Bebop, das politische Fantasy-Abenteuer Record of Lodoss War, die Killzone-Inspiration Jin-Roh oder auch der legendär wirre Mecha-Anime Neon Genesis Evangelion.
Jedes Wochenende habe ich auch hier zugeschaltet, sogar, wenn Freunde über Nacht bei mir geschlafen haben. Die wurden gleich mit-indoktriniert!
So gern ich mich also an Digimon und Co. zurückerinnere – mit VIVA, VOX (und einer Videokassette) hat der Begriff Anime für mich eine ganz neue Dimension bekommen, die viel besser zu dem Lebensabschnitt passte, in den ich damals hineinwachsen musste. Danke dafür!
Erinnert ihr euch auch so gern an VIVA, VOX und MTV zurück? Oder seid ihr rein mit RTL 2 aufgewachsen?
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